2001-03-24
Neben eher profanen Vorteilen elektronischer gespeicherter Literatur
wie das akustisch vorgespielt werden können oder die
kompakte Speicherung der Daten gibt es auch formal und inhaltlich
neue Möglichkeiten durch diesen Typ der Medien.
Die Dokumentbeschreibungssprache HTML
(Hyper Text Markup Language, allgemeiner
auch: SGML, Structured Generalized Markup Language)
und ähnliche Sprachen bieten zusammen mit der elektronischen
Speicherung und Darstellung von Texten und Bildelementen eine Reihe
neuer Impulse für die Literatur, die sich in den alten Medien
des Papierdruckes nur schlecht oder gar nicht umsetzen ließen.
Dafür hat das klassische Buch natürlich den großen Vorteil, daß keine weiteren technischen Hilfsmittel oder Kenntnisse einmal abgesehen von Licht und vom Lesen selbst notwendig sind, um den Text zugänglich zu machen. Auch ästhetische Feinheiten wie besondere Schrifttypen oder Darstellungsformen wie der Blocksatz lassen sich wegen des festen Form des Mediums besser umsetzen.
Beim klassischen Verfahren des Druckes von Literatur auf Papier ergibt sich fast von selbst, daß Texte einfach hintereinander montiert werden, was beim Leser auch das hintereinander lesen nahelegt. Allenfalls kann man noch zwei Texte (einen auf der linken, den anderen auf der rechten Seite eines Buches oder in zwei Spalten) jeweils fest nebeneinander darstellen, um durch die Form besondere Effekte zu erzielen.
Demgegenüber bietet die elektronische Speicherung und Darstellung von Texten eine Reihe von neuen technischen Möglichkeiten, zum Beispiel:
Diese Funktionen deuten schon an, daß sich der Leser damit aktiver mit dem literarischen Text auseinandersetzen kann oder gar muß, außerdem kann der Text dynamischer gestaltet werden, der Ablauf der Zeit hält Einzug in den literarischen Text.
Es ist aber ganz klar, daß die Form und die Technik immer
dem Inhalt untergeordnet werden sollten.
Was helfen einem die größten technischen Finessen, wenn
damit kein Inhalt verbunden ist?
Gleichwohl können diese neuen Möglichkeiten natürlich
Impulse für neue Inhalte geben. es zeigt sich immer wieder,
daß durch neue technische Möglichkeiten und das
Vertrautmachen mit diesen vom Kreativen auch neue Inhalte
erschlossen werden können.
Bei der Auswahl der hier von mir dargestellten Texte möchte ich
diese neuen Möglichkeiten anhand von Beispielen erläutern.
Der einfache Verweis zum Wechseln des Dokumentes kann zum Beispiel neben so selbstverständlichen Anwendungen wie Kapitelunterteilungen auch benutzt werden, um dem Leser Alternativen zur Fortsetzung des Textes vorzuschlagen.
Zwar ist es auch in der Buchform möglich gewesen, alternative Fortsetzungen anzubieten, dazu mußte der Leser aber erst dazu gebracht werden, die Varianten im Buch zu überspringen, die er nicht auswählen will, und dann an einer ganz anderen Stelle des Buches fortzufahren.
Mittels mehrerer gleichberechtigt nebeneinander gestellter Verweise kann der Leser in jedem Falle erst einmal dazu gebracht werden, sich für eine Varianten zu entscheiden, um überhaupt weiterlesen zu können.
Durch geschickte Gestaltung kann man auch den Eindruck einer wirklichen Alternative erwecken, daß also durch die Auswahl des Lesers wirklich eine Variante ausgezeichnet wird.
Allerdings wird man kaum verhindern können, daß der Leser zu einem anderen Zeitpunkt eine andere Entscheidung trifft, was man allerdings durch gestalterische Maßnahmen etwas erschweren kann.
Diese Technik des Verweisens auf Alternativen ist ist zum Beispiel in der Geschichte Annäherung der Augenblick-Variationen realisiert, aber auch in abgemilderter Form in dem Märchen Prinzessin und Gloecknerin.
Verfeinern kann man die Methode noch mit verweissensitiven Graphiken (eine solche gibt es zum Beispiel auf der Startseite), ist hier bislang aber auch nicht weiter realisiert.
Eine weitere Möglichkeit ist, durch das Angebot einer Vielzahl von
Dokumenten mit der Verweistechnik eine Art literarisches Labyrinth
zu erzeugen, in dem der Leser hin und her irren kann.
Realisiert ist dies in dem Visuelltext
Röslein fein.
Hierbei paßt das Labyrinthhafte auch sehr gut zur Thematik Liebesgedicht.
Die Nebeneinanderstellung von Dokumenten mit der Rahmentechnik (frames) ist hinlänglich vertraut von den Auswahlmenues und Inhaltsverzeichnissen. Auch hier gibt es links solche Menues, um die verschiedene Texte auswählen zu können. Bei längeren Texten gibt es mit der entsprechenden Technik auch eine Kapitelauswahl. Das ist zunächst eine praktische Anwendung und ist literarisch kaum sinnvoll zu verwenden.
Allerdings kann die Rahmentechnik hervorragend zum Vergleich von Dokumenten verwendet werden. Durch Auswahl und Nebeneinanderstellung von Dokumenten in einzelnen Rahmen wird der Leser ganz von selbst auf die Idee kommen, die verschiedenen Texte miteinander zu vergleichen.
So lassen sich zum Beispiel die subjektiven Sichtweisen einer Situation durch verschiedene Akteure einer Geschichte hervorragend darstellen. Auch die Sichtweise einer Person zu verschiedenen Zeitpunkten desselben Ereignisses wäre eine der Möglichkeiten.
Dem Leser wird so auf sehr elegante Art nahegebracht, Texte miteinander zu vergleichen, sich eingehender damit zu beschäftigen, statt nur zu konsumieren.
Der Autor muß allerdings zugeben, daß er diese wunderbare
Gestaltungsvariante bislang noch gar nicht selber inhaltlich umgesetzt hat.
Allerdings wurde in
Der Teil und das Ganze
das scrollen von Rahmen kreativ ausgenutzt.
Als moderne Variante täte man heute statt frame
s eher eine Auszeichnung mit
CSS verwenden als die technisch nicht so schönen
frame
s. Mittels einer Kombination von HTML und CSS
kann der Effekt noch flexibler eingesetzt werden, ohne die Nachteile von frames in Kauf nehmen zu müssen.
Formulare eignen sich zum Beispiel, um einzelne Worte oder Wörter im Text vom Leser wechseln oder einsetzen zu lassen. Auch hier wird der Leser geradezu dazu animiert, mit dem Text zu spielen und eigene Ideen einzubringen. Das ist umgesetzt im Gedicht und Visuelltext Liebesspiel, wobei die Möglichkeiten eines Formulars hier bei weitem noch nicht ausgeschöpft worden sind.
Es lassen sich auch Variationen denken, bei denen der Leser wesentlich mehr Gestaltungsfreiraum hat. Extrem wird diese Form der Interaktion eingesetzt, wenn der der Leser aufgefordert wird, per Formular oder per elektronischer Post eine alternative Textpassage zu schreiben und einzuschicken. Dieses literarische Spiel hat im internet inzwischen eine weite Verbreitung gefunden.
Hier auf diesen Seiten findet sich mit dem Visuelltext Phantastisches Licht ein bescheidenes Beispiel, in dieser Weise selber aktiv zu werden.
Mit statischen Bildelementen wird meistens die Strukturierung und Anordnung von Texten erleichtert. Dies ist bei den klassischen Visuelltexten oft angewendet worden. Diese Texte gab es allerdings zum größten Teil bereits auf Papier und wurde erst später elektronisch gespeichert.
Durch dynamische, animierte Bilder oder auch nur blinkende Textstellen erhält man hingegen neue Gestaltungselemente, die die Aufmerksamkeit des Betrachters mit großer Wirksamkeit auf sich ziehen. Ein einfaches Beispiel ist die Kugel in dem Gedicht keine Zauberei.
Das menschliche Gehirn ist geradezu auf die Registrierung von Bewegungen dessiert.
Man sollte dabei unbedingt darauf achten, daß man daher mit dem Effekt
sparsam umgeht. Bei mehreren beweglichen Objekten ist der Betrachter leicht
in der Aufmerksamkeit überfordert und man erzielt statt Aufmerksamkeit
lediglich noch eine Abwehrreaktion gegen die Reizüberflutung.
Die im internet häufig auftretenden Werbebanner nutzen meistens diesen
Bewegungseffekt und ermüden damit den Betrachter. Unbedingt vermeiden
sollte man, mit solchen Bildelementen in Konkurrenz treten zu wollen. Solche
Werbebanner lenken die Aufmerksamkeit des Betrachters vom Wesentlichen ab, sind
daher nicht zu tolerieren.
Durch die Dynamik solcher animierten Bilder ergibt sich auch die Möglichkeit, das Tempo und die Rhythmik des Lesens zu beeinflussen. Umgesetzt wurde dieses zusammen mit Farbeffekten bei dem Visuelltext abc der Liebe.
Der ganze Bereich der dynamischen Visuelltexte zeigt verschiedene Methoden,
wie dieser Bereich für die Literatur erschlossen werden kann.
Eine Interaktion des Lesers mit Bild- und Textelementen erfordert zum Beispiel
der Visuelltext
oft.
Weitere Beispiele finden sich im Bereich der interaktiven Visuelltexte.
Eine Alternative zu den dynamischen Bild- und Textelementen ergibt sich durch die durch zeitlich automatisch wechselnde Fensterinhalte. Auch dies kann genutzt werden, um die Aufmerksamkeit des Lesers auf bestimmte Textstellen zu lenken oder um Teiltexte erst zum geeigneten Zeitpunkt sichtbar werden zu lassen. Dieses wurde etwa eingesetzt in dem Visuelltext Die Implosion.
Leider eignen sich sowohl die Bildelemente als auch das automatische Wechseln von Fensterinhalten derzeit noch nicht sehr gut für eine effektive Umsetzung sehr detaillierter Vorgänge. Eine komplexere Dynamik von Texten harrt hier noch einer effektiveren Umsetzung.
Die Verschachtelung von Fenstern, die Möglichkeit, daß der Leser
interaktiv regressiv immer weitere Fenster aufruft oder dieser Aufruf gar
automatisch abläuft, ergibt neue Varianten. Hier geht die Gestaltung von
Text eindeutig ins Spielerische über, auch ins Design, eignet sich aber
sparsam eingesetzt ebenfalls zur Umsetzung besonderer Inhalte.
Beispiele sind einige dynamische Visuelltexte wie
Punkte nicht zu oft,
Goldener Schnitt oder
Banachscher Fixpunktsatz.
Die Interaktion des Lesers mit einer Datenbank oder einem Programm ergibt
weit über das bisher Beschriebene hinausgehende Möglichkeiten.
Diese große, auch spielerische Freiheit birgt natürlich die
Gefahr, die Form über den Inhalt zu stellen. Hat man dieses jedoch
erst einmal in Griff, so ist man hier sehr flexibel in der Umsetzung
seiner Ideen.
Hier ist das zum einen in ersten Ansätze verwirklicht, einerseits durch die
Antwortseite des Visuelltextes Liebesspiel und mehr technisch bei dem
Kommentar-Formular.
Nicht zuletzt die Umsetzung des Angebotes mittels php andererseits zeigt bereits neue elegante Möglichkeiten, Interaktion zu ermöglichen. So hat die neue Variante des Visuelltextes Genus und Sexus gegenüber der frame-Variante deutlich an Eleganz gewonnen. Ein Quell schier unerschöpflicher Möglichkeiten ergibt sich aber insbesondere in der Kunstgalerie.
Das Medium internet selbst liefert neue Möglichkeiten für ein neues literarisches Genre. Etwa können sehr schöne Geschichten erzählt werden, indem einfach ganze Themenseiten oder internet-Tagebücher frei erfunden werden. Der Leser bekommt keine Information darüber, ob es das angebotene Thema oder die dargestellte Firma oder das Produkt wirklich gibt, er weiß nicht, ob das online-Tagebuch Realität widerspiegelt oder reine Literatur ist, die nur vorgibt, ein Tagebuch zu sein. So können ganz neue Lesergruppen für Literatur gewonnen werden, die einfach das elektronische Medium mit seinen zahlreichen interaktiven und direkten Zugriffsmöglichkeiten gegenüber der klassischen Bücherliteratur bevorzugen.
Ich gehe davon aus, daß ich mit diesen Beispielen bei weitem nicht alle Möglichkeiten genannt habe, doch mag man bereits an dieser Auswahl einen Eindruck davon bekommen haben, wie gute literarische Ideen durch diese Medien neue Lösungen finden können und wie diese Medien zu neuen Ideen führen können.