2007-03-02
Die aktuelle Entwicklungsstufe des Menschen kann als die des geschichtenerzählenden Menschen bezeichnet werden, ob der das nun wortwörtlich am Lagerfeuer tut, in einem Buch aufschreibt, als Kinofilm oder Fernsehserie umsetzt oder gar als Computerspiel und auch in wissenschaftlichen Veröffentlichungen, letztlich geht es darum, andere Menschen mit einer Geschichte zu fesseln. Dazu wurden seit Alters her Methoden überliefert, wie das Interesse des Zuhörers, Lesers, Zuschauers oder Spielers, kurz des Rezipienten zu wecken und zu erhalten ist, meist ist da die Rede von Spannungsbögen, retardierenden Momenten und einer mehr oder weniger glücklichen Auflösung. Wenn der Held als die Personifizierung des Guten gegen seine Gegner, dem personifizierten Bösen nach diversen Niederlagen und Rückschlägen dennoch gewinnt, ist meist eine spannende Geschichte zuende - mit der Kommerzialisierung geht da eine relativ neue Stereotype einher, die bei Filmen gewährleistet, daß man im Bedarfsfalle eine Fortsetzung drehen kann - da muß als Schlußeinstellung der scheinbar ultimative Sieg des Guten wieder relativiert werden - im letzten Bild ist dann zu erkennen, daß unbemerkt vom Helden doch etwas Böses überlebt hat. Das ändert allerdings im Grunde nichts an der generellen klassischen Methodik, es gibt auch das Drama mit bösem Ausgang, auf welches hier nicht weiter eingegangen wird, da dieses ähnliche Strukturen hat, die in der Argumentation wenig neues bringen.
Der klassischen Methode entgegengesetzt hat Bertolt Brecht dann die der Verfremdung. Gezielt wird die Konstruktion des Erzählens oder Darstellens durch verfremdende Effekt verstärkt, um den Rezipienten aus der Rolle des Miterlebenden, Mitleidenden herauszuholen und zum kritischen Reflektieren über Werk und Inhalt des Werkes zu bewegen. Dies fordert viel mehr vom Repizienten als die klassische Methode des Miterlebens, des Mithineinziehens, welches ja in Form der Computerspiele und der stark kommerzialisierten Kinowelten auch in den letzten Jahrzehnten noch weiter verfeinert werden konnte, obgleich wohl angenommen werden kann, daß die klassische Methode, wie schon von den alten Griechen dokumentiert, wohl bis in die Urzeit zurückgeht. Die stärkere Forderung bezieht sich bei Brechts Methode darauf, daß sich der Rezipient bewußt der Botschaft von Werk und Autor stellen und selbst daraus seine Schlüsse ziehen muß, selber denken muß, um von der Geschichte profitieren zu können. Allerdings überfordert das viele Rezipienten, so daß es nicht verwunderlich ist, daß die klassiche Methode gerade im kommerziellen Sektor viel etablierter ist.
Neben dem Unterhaltungsaspekt und dem der Kommerzialisierung, die ja in den letzten Jahrzehnten stark in den Vordergrund getreten sind, gibt es doch oft auch den Gesichtspunkt, daß die Geschichte eine inhärente Lehre oder Botschaft bereitstellt, die dem durchschnittlichen Rezipienten eben in der Form des Miterlebens oder Miterleidens offenbar besser vermittelbar ist als durch eine knappe sachliche und direkte Aussage oder die Verfremdungsmethode.
Gerade bei einer inhärenten Lehre oder Botschaft stellt sich dem kritischen Rezipienten natürlich auch gleich die Frage, wie realistisch die Geschichte ist, ob sie etwa gar nur eine Lüge in dem Sinne ist, daß sie eine Botschaft vermittelt, die lediglich dem Wunschdenken oder gar der Propaganda des Autors entspringt und nicht einer fundierten allgemeingültigen Erkenntnis über die reale Welt. Geschichten sind im Grunde immer Vereinfachungen, simple Modelle unserer Umwelt oder unserer wahrgenommenen Umwelt. Wissenschaftliche Veröffentlichungen sind auch kleine Geschichten, Hypothesen oder Modelle über die Welt, die uns helfen sollen, die Welt besser zu verstehen und gezielter in ihr zu agieren. Alles sind Geschichten, Märchen für das Kind in uns allen. Sie sind dazu da, unseren Verstand zu manipulieren, an unsere Gefühle und Instinkte zu appellieren, etwas Neues zu lehren oder auch nur suggestiv unterzuschieben. Wenn nun aber die Geschichte insgesamt oder in seinen einzelnen Fragmenten bereits zu weit von unserer Alltagserfahrung abweicht, erkennen wir ihr künstliches Konstrukt, erkennen sogleich die Absicht des Autors, uns zu führen oder zu verführen, die Dinge in einer Weise zu sehen, die er gerne hätte. Wenn es so weit erst gekommen ist, wenn wir die Lüge erkennen, ist das eigenständige, kristische Reflektieren eigentlich kaum noch aufzuhalten. Was Brecht mit Verfremdungstechniken erreichen will, erreicht der dumme oder ungeschickte Autor der klassischen Methode ganz unabsichtlich durch eine unglaubwürdige oder unplausible Konstruktion. Einmal bei der Lüge oder bei einem groben Fehler ertappt, wird der Rezipient ihm nicht mehr vertrauen, wird nicht mehr miterleben, mitleiden sondern wird beginnen, eigenständig zu denken, statt die Botschaft des Autors blind anzunehmen. Im Grunde ist das Gehirn begierig auf etwas Neues. Je weniger sich das allerdings in das bereits existierende Gebäude plausibel einbauen läßt, um so heftiger ist die Abwehrreaktion.
Hier liegt ein Grundproblem der klassichen Methode. Wenn alles genauso ist, wie in der Alltagswelt, wenn nichts Ungewönliches passiert, ist die Geschichte langweilig und weder erzählenswert noch zuhöhrenswert. Sie enthält nichts Neues, welches unser Gehirn neugierig machen könnte, allenfalls kann die Emotion noch angesprochen werden, ein unterschwelliger Appell an das Mitgefühl des Rezipienten. Es entsteht aber kein Spannungsbogen, der den Leser mitreißen könnte. Vermutlich wird niemand mit der Verfilmung von Ulysses von James Joyce einen großen Kinoerfolg erzielen. Sind die Lügen hingegen zu dick aufgetragen, wirkt alles zu konstruiert. Oder folgt der Autor zu strikt dem klassischen Schema, weiß der Rezipient zu früh, was passieren wird - Spannungsbogen - retardierendes Moment - mehr oder weniger überraschende Auflösung - und kann zu leicht aus dem schon Bekannten den Rest der Geschichte extrapolieren. Andererseits wird die außergewöhnliche Handlung schnell unrealistisch, unplausibel und unwahrscheinlich. Bewegt sich nicht bereits Max Frisch mit Homo Faber hart an der Grenze des Unwahrscheinlichen? Nähert sich nicht bereits dieses gute und bekannte Werk hauchdünn dem Absurden? Stellt sich nicht schon ein leichter Verfremdungseffekt ein - ob nun beabsichtigt oder nicht? Der Rezipient muß dem Autor nicht jede Konstruktion, jeden Kniff und Kunstgriff abnehmen, nur damit dieser seine Geschichte durchbekommt - oder eben bei Kino- oder Fernsehfilmen gutes Geld damit verdient. Wenn alles schon vorhersehbar ist, kann der Rezipient mühelos drei Filme gleichzeitig sehen (umschalten beim Fernsehen), oder aber er schaltet ab, weil die unabsichtliche Komik des Ungeschicks irgendwann nicht mehr zu ertragen ist und sich der ungeplante Verfremdungseffekt gegen den Autor richtet. Statt über seine Botschaft nachzudenken, sinnt der Rezipient plötzlich darüber nach, ob der Autor ihn für blöd hält.
Nehmen wir als Beispiel folgendes: Ein Indianer treffe einen australischen Ureinwohner in Rom auf einer Konferenz über exotische Materie. Die beiden verlieben sich zudem in eine junge Kollegin aus London. So weit so unwahrscheinlich, das kann aber vielleicht noch hingenommen werden, wenn sich daraus eine interessante, lustige, dramatische oder romantische Geschichte ergibt, die im weiteren Verlauf jedenfalls plausibel sein sollte. Wenn der Autor die Geschichte jedoch dann so hindreht, daß die beiden Halbbrüder sind und die junge Frau sich ihrerseits als ihre Halbschwester entpuppt, die sich aus einer kurzen flüchtigen Affäre jeweils eines Elternteils ergeben hat, die auch einst in Rom stattgefunden hat, wobei aber dieses Kind... und so weiter und so fort - das geht entschieden zu weit und die Sache wird absurd, erst recht natürlich, wenn die Geschichte zur Zeit Cäsars spielt.
Das alles ist ein schmaler Grad zwischen Erfolg und einer guten Geschichte einerseits und Unglaubwürdigkeit durch eine schlecht konstruierte Geschichte andererseits. Dies trifft auch auf Genres wie fantasy und science fiction zu. Wie beim Märchen sind hier gewissen Stereotype und Konstruktionen erlaubt und notwendig, um über die Alltagserfahrung des Rezipienten hinauszugelangen. Das Kunststück besteht eben darin, diese Lügengeschichten so geschickt zu präsentieren, daß der Rezipient das Wechselspiel zwischen unwahrscheinlicher Konstruktion und plausiblem weiterem Handlungsverlauf akzeptieren kann. Wenn dem Szenario erst einmal gewisse Eigenschaften zugewiesen sind, von denen der Rezipient in der Regel akzeptiert, daß sie nicht seiner Erfahrung entsprechen, so bringt sich der Autor um Kopf um Kragen, wenn er später noch weitere bizarre Ereignisse und an den Haaren herbeigezogene Abläufe vom Himmel fallen läßt, nur um seine Botschaft oder Geschichte zu retten.
Geschichten müssen also innerhalb ihres Szenarios immer noch plausibel erscheinen, selbst wenn die Konstruktion von vorne herein eine unwahrscheinliche Anfangskonstellation erfordert. Erst dann kann ein Autor mit der klassischen Methode durchkommen.
Ansonsten bleiben noch die Verfremdungstechniken nach Brecht, wo dem Rezipienten ganz bewußt die Konstruktion vorgeführt wird, damit dieser über das Werk nachzudenken beginnt, statt es wie bei der klassischen Methode zu durchleben. Hier sind die Anforderungen an die Wahrscheinlichkeit des Dargestellten viel subtiler. Hier muß die notwendig vorhandene Botschaft plausibel sein, um den Rezipienen zu überzeugen, nicht das Mittel wahrscheinlich, mit dem die Botschaft transportiert wird.