Alternative Buchvariante (EPUB) mit Graphik
Geschrieben: 2002-03/06
Nachdem er Montag nichts von ihr gehört hat, klingelt Markus am Dienstag abends bei Annkathrin. Als diese öffnet, freut sie sich sichtlich, ihn zu sehen, bittet ihn herein. Markus erkundigt sich, ob sich etwas neues ergeben habe. Annkathrin schüttelt den Kopf, in der Woche sei sie ja hier in der Stadt, da habe sie Ruhe, nicht in der Gemeinde. Die Verhältnisse hätten sich geradezu umgedreht. Natürlich habe sie weiter darüber nachgedacht, was ihr wichtig sei.
Sie setzen sich auf die Couch und Annkathrin schaut Markus mit klaren, graugrünen Augen in die seinen, fixiert ihn in einem Moment der Stille. Er hält ihrem forschenden Blick stand. Sie fragt ihn, ob er eigentlich an Gott glaube und ob er in einer religiösen Gemeinschaft sei - sonst könne er ja ihren Konflikt vermutlich gar nicht nachvollziehen.
Markus lacht, das sei ja die Gretchenfrage, Annkathrin zeigt auch ein zauberhaftes Lächeln, während sich ihr Blick deutlich entspannt - nur sei er wohl weder Faust noch sie die Margarete.
Markus führt aus, er glaube nicht an einen Gott und religiös sei er auch nicht engagiert. Er glaube fest daran, daß es keinen Gott gebe, die Menschen müßten sich schon selbst und vor allem gegenseitig helfen, seien für sich selbst verantwortlich. Zwar stehe er zu dem allgemein akzeptierten Wertesystem, welches christliche Ursprünge habe. Allerdings sei ein Gott keine brauchbare Begründung dieses Wertesystems, sondern dies basiere auf freiwilliger und willkürlicher Entscheidung eines jeden einzelnen. Wenn er besorgt um seine Mitmenschen sei, sei das keine religiöse Verpflichtung, das sei so, weil er das ganz persönlich als richtig empfinde.
Annkathrin erwidert, darüber müsse sie erst einmal in aller Ruhe nachdenken.
Markus fragt, was sie eigentlich sonst so mache. Annkathrin erzählt über ihr Musikstudium. Musik, besonders klassische habe sie schon immer sehr interessiert. Es sei ihr auch recht leicht gefallen, das Spielen von Musikinstrumenten zu erlernen. Schwerpunkt des Studiums sei aber die Theorie und der Aufbau solcher Werke - und damit natürlich eng verknüpft die praktische Umsetzung dieser Inhalte.
Eher durch Zufall sei sie zu elektronischen Musikinstrumenten gekommen. Heute sei sie recht gut im Umgang mit Computerprogrammen, Synthesizern und ähnlichen Dingen. Das habe ihr ganz neue, auch kreative Möglichkeiten erschlossen, die dann auch zu eigenen Projekten geführt hätten, die sie mit anderen Studenten und Musikern durchführe. Sie lächelt, erst das habe ihr hier in der Stadt ein paar sehr gute Bekannte, fast schon Freunde eingebracht, während sie sonst eher eine Einzelgängerin sei. Viele Musikgruppen, besonders im Pop-Bereich nutzten die Möglichkeiten der Elektronik und der Computer ja nur sehr rudimentär. Mit ihren Kenntnissen und selbst angeeigneter praktischer Erfahrung mit den Geräten und der ihr typischen Sorgfalt ergebe sich ihr Beitrag zu solchen Projekten - feine aber entscheidende Modifikationen und Ausschmückungen, Gestaltung und professionelle Aussteuerung von Musikstücken. Inzwischen funktioniere sogar die Mundpropaganda, um sie in der Szene bekannter zu machen.
Markus staunt, wie sehr sie auflebt, als sie davon erzählt, wie lebendig sie wird, wie sie strahlt, wie schön sie wird, wie ihre Augen glitzern, und er begreift, was ihr Leben wirklich bewegt und wie sehr die Forderungen ihrer Gemeinde sie aus ihrer Welt herausgerissen haben muß. Die Zuneigung, die er bereits vorher für sie empfunden hat, steigert sich zu einem schwer zu verbergenden Verlangen, sie heftig zu umarmen und zu liebkosen.
Annkathrin ist fröhlich, wie er sie bislang nicht erlebt hat, gegenüber seinem ersten Eindruck des schieren Elends an jenem Abend in ihrer Wohnung ist sie eine komplett andere Person geworden. Vergnügt zeigt sie ihm ein paar Dinge an ihrem Computer, ihre Hände berühren sich auf der Tastatur, ihre Schultern lehnen vertraut aneinander.
Annkathrin ist in ihrem Element und alles andere scheint vergessen als sie ihre Welt erklärt und vorführt. Markus staunt, daß alles so ruhig ist, er hatte damit gerechnet, daß man es im Hause hätte hören müssen, wenn sie hier arbeitet. Annkathrin widerspricht vergnügt lachend. Die Musik habe sie nahezu komplett im Kopf. Mit ihrer Ausrüstung hier könne sie die Musik ohnehin nicht so abspielen, wie sie auf professionellen Geräten erklingen würde, dazu müsse man in ein Studio, zum Beispiel in der Uni. Sie habe die Notationen verfeinert, mit denen man die Geräte aussteuern könne, um gleiche Resultate zu erzielen. Feinheiten hingen natürlich immer vom Raum ab, in dem gespielt oder aufgezeichnet werde. Interessant seien natürlich auch die Möglichkeiten, Musik komplett elektronisch aufzuzeichnen, ohne reale Klangerzeugung vor der Aufzeichnung. Heute würde der Klang ja meist erst akustisch erzeugt und dann aufgezeichnet. Aber es sei natürlich auch prinzipiell möglich, die Aufzeichnung komplett im Rechner im digitalen Format zu erzeugen. Da sie hier im Hause nicht stören wolle, spiele sie hier Dateien und Kompositionen allenfalls mit Kopfhörer ab. Richtig üben, insbesondere mit klassischen Instrumenten tue sie sowieso in der Uni. Sie wolle hier keinen Ärger haben.
Annkathrin setzt ihm den Kopfhörer auf und führt weitere Beispiele vor, sie amüsieren sich köstlich bis in die Nacht hinein. Als sie sich schließlich verabschieden, folgt Markus einem plötzlichen Impuls und nimmt sie sanft in den Arm. Einen Moment zögernd erwidert sie seine Umarmung und hält ihn fest. Still und innig halten sie sich eine Weile, bevor Markus zurück in seine Wohnung geht.