Ganz früh fahre ich zu dem Haus, in dem sie wohnt und warte. Endlich wird in der Wohnung Licht gemacht, ich war schon etwas ungeduldig geworden, obwohl bis zu meiner ersten Vorlesung heute noch Zeit ist. Ich warte noch eine Weile, verberge mich dann hinter Büschen in jenem Park, durch den sie gehen muß, wenn sie zur Straßenbahn will.
Tatsächlich kommt sie vorbei, trägt dieselben Sachen wie zuvor am Abend, eine dicke wollene Jacke mit dunklem Muster, einen langen Rock, dicke, lange wollene Strümpfe, flache Schuhe. Die Haare trägt sie auch wieder zu einem Knoten hochgebunden. Die Handtasche hat sie über der Schulter gehängt.
Ich folge ihr vorsichtig, sie scheint mich nicht zu bemerken, eilt mit schnellen Schritten durch die Straßen zur Haltestelle. Dort angekommen, wird es für mich schwierig, da nur zwei weitere Personen außer ihr warten. So wie sie an der Haltestelle steht, wird sie in den ersten Wagen einsteigen. Ich beschließe, bis zum letzten Augenblick zu warten und dann zur Bahn zu eilen und in den zweiten Wagen zu steigen. Als die Straßenbahn kommt, gelingt dieses Manöver, ich begebe mich im zweiten Wagen ganz nach vorn. Bei der übernächsten Haltestelle wechsele ich schnell in den vorderen Wagen. Ich finde schräg hinter ihr noch einen Sitzplatz. Sie sitzt mir den Rücken zugewendet, wirkt wieder irgendwie angespannt, während ihr Blick starr aus dem Fenster gerichtet ist, nunmehr auf die Betonwände des U-Bahn-Schachtes. Blickt man so aus der fahrenden Bahn ganz dicht auf den grauen Sichtbeton, wischt dieser nur so vorbei zu einem diffusen Strom aus abstrakter Struktur. Es wenn das Augen für einem Moment einen Punkt fixieren würde, würde sich dieser für diesen kurzen Augenblick aus dem verwischten Strukturbrei herauslösen, um gleich im nächsten Moment schon entschwunden sein. Dieser Wischeffekt wird zum Charakteristikum der Beobachtung. Gleichzeitig werden die eigenen Gedanken mit dem kurz fixierten Betonstück fortgerissen, während man selbst durch Raum und Zeit davongezerrt wird.
Ich folge ihr auch, als sie am Kröpcke wieder umsteigt. Diesmal stehe ich schräg hinter ihr, während sie wieder einen Einzelplatz bekommen hat. Ich sehe ihr Gesicht im Fenster der Straßenbahn, wie sie mit starrem Blick immer noch das nur von der Innenbeleuchtung des Zuges spärlich erhellte Grau des U-Bahn-Tunnels an sich vorbeifliegen läßt. Ein philosophischer Moment. Während man selbst ruhend dahineilt, zeigt einem der durch die Bewegung verwischte Beton, wie die Zeit eilig zwischen unseren Gedanken versickert. Ist ist das vielleicht auch gerade jetzt eingefallen? Oder ist es ein ihr bereits schon vertrauter Gedanke, eine automatische Assoziation beim Blick auf die eilig verwischten Betonwände? Oder ist das für sie da draußen einfach nichts und sie ist versunken in eigenen Gedanken, in ihrer eigenen Welt, in welche die Information von ihren Augen jetzt nicht einzudringen vermag?
Sie ein Stück vorangehen lassend, schleiche ich ihr weiter nach, als sie aussteigt, auch jetzt bemerkt sie mich nicht, obwohl nicht viele Leute an dieser Station aussteigen, sie schaut sich nicht um und eilt durch die Straßen. Ihr Weg führt uns zum Hintereingang eines Gebäudes, in dem sie wohl arbeitet. Ich bleibe in einiger Entfernung stehen, während hinter ihr die Tür zufällt. Weiter folgen kann ich ihr nicht, ich kehre zur Straßenbahn zurück, fahre Richtung Innenstadt und Universität. Doch wie soll es mit ihr weitergehen? Ob sie das Gebäude verlassen wird, wenn sie Mittagspause hat? Wann hat sie Feierabend? Mittags habe ich keine Zeit, um auf sie zu warten. Wegen des Feierabends wird man hoffentlich von Mittwoch auf Donnerstag extrapolieren können. Ich werde vermutlich rechtzeitig da sein können. Das Gebäude hat auch noch einen Haupteingang, durch den einige andere Personen hineingegangen sind, ich müßte beide im Auge behalten, um sie nicht zu verpassen, was aber nicht geht, doch wenn ich mich am voraussichtlichen Weg zur Straßenbahn aufstelle, werde ich sie vermutlich nicht verpassen.