Geschrieben: 1993-07-27/08-06, 2015-01-09/18
Nach dem Frühstück Zuhause stecke ich Geld ein und fahre mit der Üstra in die Stadt. Mich an ihre schönen Beine, ihr schlankes Fußgelenk erinnernd, kaufe ich dafür bei einem Juwelier ein robustes Silberkettchen. Zum einen wird das sehr schön aussehen und könnte vielleicht auch die Geschichte mit den Socken ersetzen, die ja doch auf die Dauer recht unpraktisch ist. Zum anderen folge ich damit einer Konvention des Schenkens an die geliebte Person und trotz nicht allzu üppiger Kasse ist die Kette noch in meinem finanziellen Rahmen und bekräftigt so auch, daß ich es mit ihr durchaus ernst meine und sie sich darauf verlassen kann, daß ich sie nicht ausnutzen will, daß wir wirklich ein paar sind und zusammengehören, einander gehören. Ein üppigeres Geschenk könnte da auch anders mißverstanden werden, es gilt also das rechte Maß zu halten und nicht zu übertreiben, andererseits aber auch keinen Müll zu kaufen.
Anschließend, als ich schon Richtung Universität weiterfahren will, fällt mir noch etwas ein, besorge mir eine zweite Zahnbürste, dann geht es weiter zur TIB, wo ich bis zum Mittag eine Zeitschrift im Chemielesesaal lese, wozu ich bisher noch nicht gekommen war, dann gehe ich von der Bibliothek zur Mensa, esse, gehe zur TIB zurück, lese weiter, dabei spiele ich mit dem Kettchen, welches ich mir um das rechte Handgelenk gelegt habe und denke an sie und das, was sie über sich erzählt hat.
Wahrscheinlich hat sie Recht, sie zieht mich nicht nur sexuell sehr an, es erscheint mir möglich, daß Liebe mehr als nur ein Wort ist, mehr als sich zu verlieben und Geschlechtsverkehr miteinander zu haben. Ich möchte sie kennenlernen, möchte, daß sie mit mir all diese Gefühle erlebt, es genießt, ohne Angst zu haben. Auch ich muß ihr vertrauen, doch wenn sie mir vertraut und keine Angst hat, mir ihre Gefühle zu zeigen, kann es gehen. Jedes Wort, was sie sagt, ist mir wichtig. Ich muß mit ihr vorsichtig umgehen, damit ich ihr Vertrauen verdiene und nicht verliere, sie nicht enttäusche. Ich muß sie zum Lachen bringen, ein Strahlen in ihr Gesicht und die kleinen Grübchen in ihre Wangen zaubern, dann hat sie keine Angst. Doch wenn sie Angst hat, wenn sie traurig ist, muß ich zu ihr halten, darf sie nicht enttäuschen, muß ihr Geborgenheit und Sicherheit geben, zeigen, daß wir auch dann zusammengehören. Ich möchte, daß sie mir vertraut, möchte sie nicht enttäuschen, nicht verletzen, möchte ihr Vertrauen in mich verdienen. Ich glaube, ich liebe sie, soweit ich diese - wie sie sagt - Fähigkeit habe.
Nach dem Abendbrot sehe ich fern, das Wochenende wird schlimm werden, sie fehlt mir schon jetzt, ich brauche sie, weil ich sie liebe. Das sind auch so einfache Worte und doch mit so großer Tragweite, daß es schwerfällt, sie im kompletten Satz zu denken, geschweige denn auszusprechen. Aber es muß so sein, was könnte es sonst sein?
Wenn man noch nie geliebt hat, woher weiß man, daß man es gerade erlebt? Oder wenn man noch nie, sagen wir mal, Hagebuttentee getrunken hat, woher weiß man, daß es Hagebuttentee ist, wenn es nicht dransteht und es einem keiner sagt? Wenn man das erste Mal die Farbe Blau sieht, woher weiß man, daß das Blau und nicht etwa Rot ist? Ist dein Blau dasselbe Empfinden wie meines? Ist der Hagebuttenteegeschmack bei dir derselbe wie bei mir? Und der erste Orgasmus - gut Mann hat da ja einen recht glibbrig-feuchten Beleg, das muß es dann wohl gewesen sein. Aber woher weiß Frau beim ersten Orgasmus, daß es das ist und nicht nur ein angenehmes Gefühl, daß da nicht noch mehr oder anderes ist? Zwar treten da auch Körperflüssigkeiten aus, wie beim Mann kann das aber natürlich auch schon vor dem Orgasmus passieren und hat zu dem Zeitpunkt auch bereits eine wichtige Funktion, also kein Beleg. Woher wissen, ob dies eigene Gefühl das gleiche ist, von dem vielleicht die Freundinnen so begeistert berichten? Und fühlt sich Liebe bei dir so an wie bei mir? Beim Mann genauso wie bei der Frau? Oder sind das völlig andere Konzepte, Empfindungen in leicht unterschiedlichen Gehirnen? Ist nicht jedes Gehirn, jede Persönlichkeit einzigartig? Wie kann es da ein übergreifendes Konzept wie 'Liebe' geben, welches für alle gilt und paßt?
Und doch, und doch - ich weiß, daß ich sie mag, sie liebe, was sollte es sonst sein, was mich immer an sie denken läßt, mein Herz schneller schlagen läßt, mich so glücklich sein läßt, wenn ich bei ihr bin? Nur Hormone? Verdecken, harmonisieren die alle Unterschiede und Unstimmigkeiten in einem einzigen, emotionalen Glücksrausch, der uns zusammenführt und zusammenhält? Und wenn - wäre das so schlimm? Dann jedenfalls könnte man recht genau sagen - wenn die Mischung an Hormonen vorliegt, ist man frisch verliebt und will nicht voneinander lassen und wenn die Mischung etwas anders aussieht, ja dann ist es die große Liebe, die ein Paar für immer verbindet oder jedenfalls für viele Jahre, die Mischung, die dafür sorgt, daß man eher nach Gemeinsamkeiten und Kompromissen guckt, um miteinander glücklich zu sein, statt Kleinigkeiten eskalieren zu lassen. Die Mischung, die einen auch Durststrecken und Krisen überstehen läßt, ohne gleich die geliebte Person oder die Beziehung in Frage zu stellen. Die Mischung, daß man spürt, man gehört zusammen und das es gut und wichtig ist, sich dafür einzusetzen, daß man zusammen bleibt.
Und doch ist das irgendwie zu profan, einfach nur Hormone. Im Kopf steckt ja eine Identität, die lebt und weiß, daß sie zweifelt, entscheidet, erlebt, liebt, eben alles, was dazugehört. Auch wenn es von außen eine profane Illusion sein mag, so ist man sich von innen sicher, das ist das eigene Ich, und eine solche Identität billigt man auch den anderen zu und ganz sicher der geliebten Person, deren Ich, deren Geheimnis man ergründen will, nicht nur die exakte Mischung der gerade vorhandenen Hormone.
Liebe ist die stärkste Macht der Welt, und doch ist sie die demütigste, die man sich vorstellen kann.
Mahatma Gandhi
Liebe ist eine tolle Krankheit - da müssen immer gleich zwei ins Bett.
Robert Lembke
Liebe ist ein Handel, wo beide Parteien gewinnen.
Georg Christoph Lichtenberg
Wenn man Liebe nicht bedingungslos geben und nehmen kann, ist es keine Liebe, sondern ein Handel.
Emma Goldman