Alternative Buchvariante (EPUB) mit Graphik
Geschrieben: 2015-07-15/08-03
Gundula überlegte, irgendwie mußte sie Paul davon überzeugen, sie zu küssen, wobei allein der Gedanke daran nicht ihren Gefallen fand. Sie wollte niemanden küssen. Und dieser Paul, also der hatte seinen eigenen Kopf und folgte ihren Anweisungen als Prinzessin nicht, weil er ihr nicht glaubte. Er war frech und machte sich über sie lustig. Den wollte sie bestimmt nicht küssen. Allein der Gedanke schien abwegig. Aber das war Voraussetzung, um zurückverwandelt zu werden. Also mußte sie ihn irgendwie um den Finger oder eher um den Schenkel wickeln, damit er es tat, so widerlich es auch für sie sein mochte. Sie mußte ihn irgendwie herumkriegen - und das war nun gerade das Gegenteil von dem, worin sie reichlich Erfahrung hatte. Konnte sie irgendwie davon profitieren, daß sie Routine hatte, interessierte Verehrer herunterzubürsten und abzuweisen? Wohl eher nicht. Aber sie brauchte auch nur einen Kuß, einen einzigen, lächerlichen Kuß! Was war im Grunde schon dabei? Im Grunde war allerhand dabei, denn sie hatte dazu rein gar keine Lust! Irgendwie hatten sich die Rollen vertauscht, aber doch irgendwie nicht ihre ablehnenden Gefühle. Wenn sie wenigstens wie ihre Kandidaten die geringste Lust verspürt hätte, sich an jemanden heranzumachen! Aber dies war einfach nur widerwärtig!
Es schien ihr protokollarisch gesehen irgendwie falsch zu sein, von diesem einen Kuß zu fordern. Das war komplett unangemessen. Andererseits pfiff sie in diesem Fall auf das Protokoll, was hatte sie jetzt mit dem Protokoll zu tun?
Nun hatte er ihr immerhin aus dem sumpfigen Teich geholfen, aber solch ein Kuß wäre da schon ein reichlicher Lohn für solch eine kleine Tat, die im Grunde eine Selbstverständlichkeit war. Hätte nicht jeder einer verwunschenen Prinzessin aus dem Sumpf geholfen? Hätte nicht ein jeder geradezu dankbar sein müssen, ihr überhaupt helfen zu dürfen? Dennoch, um sich gänzlich aus der vertrackten Lage zu befreien, brauchte sie nun einmal offenbar jemanden, der sie küßte, so scheußlich das auch für sie sein mochte, sie mußte sich überwinden. Und das fiel ihr wirklich nicht leicht. Und dieser Paul, naja, immerhin ein stattlicher Mann, keine direkte Lusche wie einige andere Kandidaten, die bereits Interesse an ihr gezeigt hatten. Und daß er seinen eigenen Kopf hatte, widersprach, so schlecht stand ihm das nicht. Obwohl sie es zu schätzen wußte, wenn Lakaien und Speichellecker ihr dienten, viel mehr hätte sie denen nicht zugetraut, sie nicht respektiert. Paul zweifelte und dachte selbst nach, war frech und selbstbewußt, ließ sich von ihr nicht gleich einschüchtern, das war immerhin mal eine Person, die man eigentlich halbwegs gelten lassen konnte - und etwas besseres würde sie hier wohl ohnehin nicht auftreiben können, also keine Alternativen, keine Wahl, er war nicht nur das kleinere Übel, sondern offenbar weit und breit das einzige. Konnte er ihr das Wasser reichen? - oder tat er es nicht bereits, jedenfalls ganz praktisch, immerhin schwamm sie darin - in seinem Eimer.
Paul war irgendwie mit seiner Bastelei am Fenster zu einem vorläufigen Ende gekommen und sagte zu ihr gewandt: "Schau mal, hier habe ich einen Platz am Fenster für dich eingerichtet, ein paar Steine, etwas Wasser, eine Ecke, wo du dich verkriechen kannst!" Er hatte in aller Eile ein eigenes Reich für die Kröte zusammengestellt, nichts besonderes, war ja auch nur eine Kröte aus einem verwahrlosten Teich, die sollte damit doch wohl schon zufrieden sein, selbst wenn sie sich für eine Prinzessin hielt. Immerhin sehr unterhaltsam, eine solche Kröte im Haus zu haben. Gut, auf ihr Herumzetern hätte er schon gut verzichten können, aber ab und an eine angeregte Diskussion mit jemanden mit einem eigenen Kopf versprach schon Abwechslung, denn er war hier ziemlich allein. Gut, er hatte sich in die Einsamkeit auf dem Land zurückgezogen, um erst einmal seine Ruhe zu haben, aber er mußte zugeben, es war schon sehr ruhig um ihn geworden. Da war selbst solch eine lustige Kröte ein Höhepunkt im Alltag, eine gute Abwechslung und Bereicherung.
Gundula beschloß, sich das einmal anzusehen, bevor sie mit ihrer Forderung herausrückte.
Im Rahmen seiner Möglichkeiten und Vorstellungen schien Paul ja immerhin bemüht zu sein, ihr etwas anzubieten.
Sie forderte: "Heb mich hinauf!"
Aber gleich kamen ihr auch Bedenken, dachte der Kerl wirklich, sie würde hier bleiben, auf der Fensterbank zwischen
ein paar Steinen und Topfblumen? Was dachte der, wer sie war, offenbar dachte er immer noch, sie sei eine Kröte!
Paul aber wollte die Kröte nicht unbedingt anfassen, obgleich nun sauber, war die schrumpelige, warzige Kröte nicht gerade ein kuscheliges Haustier. So nahm er kurzerhand den Eimer mit der schwimmenden Kröte und hielt beides dicht vor die vorbereitete, breite Fensterbank. Gundula sprang und sah sich um. Gut ein paar Steine, man konnte sich auf einer Seite in der Sonne wärmen, in der anderen Ecke im Dunkeln verstecken. Es gab einen großen Suppenteller mit frischen Wasser. Und dann natürlich ein paar Topfblumen. Sie kannte die Arten alle beim Namen. Die waren nicht besonders exotisch, aber ganz hübsch und robust - also wohl ganz gut geeignet für solch eine einsame Männerwirtschaft. Sie sprach: "Ich habe Hunger. Gib mir zu essen! Etwas Brot, bloß keine Fliegen oder ekliges Zeug!"
Paul schmunzelte: "Na steckst jedenfalls voll in deiner Prinzessinnenrolle, Anweisungen geben und keine Fliegen und kein ekliges Zeug zu essen. Na gut, ich habe recht frisches Brot, kannst es auf eigene Verantwortung probieren."
Er legte gleich einige Stückchen Brot auf den Rand des Tellers mit dem frischen Wasser und kostete sogar demonstrativ vor.
Hungrig probierte nun auch Gundula davon.
Es war einfaches, aber frisches Brot, es duftete gut. Und sie dachte, niemals hätte sie so köstliches Brot gegessen
wie jetzt, sie fühlte sich besser, zumal Paul gleich ein paar Stückchen nachlieferte, als sie die ersten aufgegessen hatte.
Zusammen mit dem Wasser war das ein zwar einfaches, aber köstliches Mahl. Gundula fühlte sich besser und wurde ruhiger.
Sollte sie es nun riskieren und den Kuß fordern? Von diesem Burschen? Gut, von wem sonst. Offenbar war dieser Paul ihre
Chance, ihre Fahrkarte nach daheim.
Konnte sie ihn dazu bringen, mehr als eine sprechende oder quakende Kröte in ihr zu sehen?
Also versuchte es Gundula erst einmal für ihre Möglichkeiten mit sehr freundlich: "Ich danke für das einfache Mahl."
Paul nickte: "Gerne doch. Ich hoffe doch, damit ist die Stimmung auch gleich besser?"
Gundula stimmte zu: "Jaja, sicher. Ähm also da gäbe es noch etwas..."
Paul: "Was denn?"
Gundula: "Ich fordere dich auf, mich zu küssen, dann verwandelt sich meine Gestalt zurück in meine ursprüngliche menschliche Gestalt,
die für mich als Prinzessin angemessene Form. Dann wirst du mir schon glauben, daß ich eine verwunschene Prinzessin bin!"
Paul verzog fast schon erwartungsgemäß das Gesicht: "Also ich weiß nicht. Ich möchte betonen, ich mag Tiere und habe nichts gegen Kröten an sich, aber Kröten küssen ist nicht so mein Ding. Vielleicht bist du ja auch giftig oder hast halluzinogene Substanzen auf der Krötenhaut, das gibt es doch alles! Du hast ja schon ein ziemlich giftiges Mundwerk mit deinen Forderungen, warum sollte das nicht wirklich irgendwie giftig sein, im eigentlichen Wortsinne?"
Gundula antwortete empört: "Also an mir ist überhaupt nichts giftig, jedenfalls nicht, wenn ich jetzt endlich mal zügig zurückverwandelt werde, daher fordere ich erneut deinen Kuß! Und vor allem sollst du mich ja nicht wie ein Drogensüchtiger abschlecken, um einen Kick zu bekommen, was zudem so wohl gar nicht klappen wird. Außerdem ist die Vorstellung widerlich, wie deine lappige Zunge über meinen Krötenleib schlabbert. Also ein einfacher, sauberer Kuß mit spitzen Lippen auf den Mund, gerade so eben, mehr nicht, mehr bestimmt nicht, ich warne dich! Und denk bloß nicht, für mich ist das ein Spaß. Es ist entwürdigend, wenn man sich küssen lassen muß! Ich habe auch persönlich nichts gegen Kröten, will jetzt aber endlich meine menschliche Gestalt zurück!"
Paul zeigte sich noch immer sehr skeptisch und unschlüssig: "Also wenn ich es mir genau überlege, so eine sprechende Kröte ist doch deutlich spektakulärer als eine herumzickende Prinzessin, die Küsse fordert, die sie für eine persönliche Zumutung hält. Als sprechende Kröte könnte ich dich an Schausteller verkaufen, das gäbe bestimmt eine lustige Vorstellung mit dir! Mit lustigen Vorstellungen bist du ja jetzt schon ganz groß. Mußt gar nicht proben, nur du selbst sein!"
Gundula kochte innerlich, sie war keine lustige Kröte, die eine Vorstellung gab und sie zickte nicht herum, jedenfalls im Moment nicht: "Das wagst du nicht! Ich würde schmollend wie eine Kröte in der Ecke sitzen und keinen Ton sagen, damit kämst du also gar nicht durch!" Tatsächlich saß sie aber ganz oben auf dem Stein und hatte stolz den Kopf gehoben, um sich Respekt zu verschaffen.
Paul: "Also gesetzt einmal den Fall, ich glaube dir. Was soll da schon für eine Prinzessin daraus werden, wenn man mit einer schrumpeligen, warzigen und vorlauten Kröte beginnt?" Dabei grinste er ganz frech und herausfordernd.
Gundula wurde einmal mehr ungeduldig:
"Was denkst du dir, meine menschliche Gestalt hat keine einzige Warze, keinen Schrumpel.
Mein Körper ist jung und gepflegt, ich habe lockiges Haar. Gut, ein paar Sommersprossen werde ich einräumen,
aber sonst gibt es da nichts, was in Richtung häßlich von der Norm abwiche!
Ich habe den Körper einer ganz normalen Frau, nichts besonders bemerkenswertes dran, was für dich von besonderem Belang oder Interesse sein sollte.
Ich kann doch wohl einen gewissen Respekt als Prinzessin erwarten und verbitte mir solche Unterstellungen.
Zudem, du sollst mich ja nur als Kröte küssen, nicht als Mensch!
Von daher kann es dir doch gleich sein, wie ich danach aussehe.
Zudem hast zu zugegeben, von mir gehört zu haben, weist also, wie alt ich bin und zu meinem Ruf gehört sicher nicht, daß ich
eine schrumpelige warzige Zicke bin. Gut, daß ich in mancher Hinsicht eine eigene Meinung und Persönlichkeit habe, das stimmt sicher, aber was ist daran verkehrt? Dürfen Frauen etwa nicht selbst über ihr Schicksal bestimmen? Was sollen all diese Anfeindungen, nur weil ich meinen eigenen Weg gehen will? Bin ich gleich vorlaut und schlecht, nur weil ich nicht nur eine eigene Meinung habe, sondern sie auch vertrete, nur weil ich selber denke und keine Lust habe auf dämliche Verehrer? Nur weil ich selbst wählen und entscheiden will, was meine Zukunft ist und mit wem ich sie verbringen will?"
Aber vermutlich war Gundula gerade deswegen so aufgebracht, weil sie im Grunde sehr verunsichert war.
Wer war sie denn wirklich?
Wenn niemand ihr glaubte, daß sie eine Prinzessin war, war sie dann wirklich mehr als eine Kröte?
Bestimmte das, als was andere sie sahen, was sie war? Oder doch das, was sie fühlte, wer sie war?
Und war bei letztem wirklich ein zentraler Punkt, daß sie eine Prinzessin war?
Oder war das nur ein Schutz, eine Tarnung, eine Rolle, hinter der sie sich bislang immer hatte verstecken können,
um ihre eigenen Zweifel, Unsicherheiten, ihre eigene Empfindlichkeit zu verstecken?
Nun, als die Gestalt der Prinzessin fort war,
diese Rolle, die man ihr ja eigentlich nur von Kindertagen an übergestülpt hatte,
blieb da nicht wirklich nur eine kleine, unattraktive, belanglose Kröte mit großem Maul?
Trotz oder gerade wegen ihrer aufkommenden Zweifel und ihrer Unsicherheit hatte sich Gundula richtig in Fahrt geredet, ihre Stimme überschlug sich schon und sie artikulierte zunehmend schneller und daher als Kröte auch zunehmend schlecht verständlich. Und Paul hatte natürlich nichts gegen selbstbewußte Frauen, die bereit waren, selber zu denken. Und wenn sie so weiterplapperte, würde sie bald wirklich nur noch wie eine Kröte quaken und das war gemein, daher beschwichtigte er sie: "Gut, gut, ruhig bleiben! Ich habe überhaupt nichts gegen intelligente Frauen, die wissen, was sie wollen oder auch nicht, sich aber auch nicht sagen lassen wollen, was sie wollen sollten, das ist alles völlig in Ordnung. Beruhige dich, deine Vorstellung ist schon recht überzeugend. Eine echte Kröte würde wohl nicht so eifrig auf Frauenrechte insistieren, was immer sie auch denkt, was sie ist. Dazu gehört mehr an kulturellem Hintergrund und Bildung, als eine Kröte sich aneignen könnte."
Gundula hüpfte triumphierend auf und forderte erneut: "Du siehst es also ein. Die einfache Logik ist erfolgreich bis in dein Denken vorgedrungen. Herzlichen Glückwunsch! Du machst Fortschritte! Siehst du, wenn du dir nur die Mühe gibst, ein wenig nachzudenken und den Sachverhalt zu analysieren, statt dich über mich lustig zu machen, kommst du doch zu haltbaren Ergebnissen. Küß mich jetzt sofort! Ich kann es nicht mehr ertragen! Sofort, Kuß und Schluß mit dem Krötenwahn!"
Paul verzog unzufrieden das Gesicht, mußte aber einräumen, daß sie argumentatorisch und logisch irgendwie gewonnen hatte.
Und im Grunde, als er sich auf den Sachverhalt eingelassen hatte, sich mit einer Kröte zu unterhalten, war es auch nicht viel
unplausibler, daß die Kröte eine verwunschene Prinzessin war, wohl kein verwunschener Prinz, der ihn auszutricksen versuchte,
denn der hätte wohl anders argumentiert, selbst ein schwuler Prinz, dem wohl vielleicht an einem Kuß gelegen gewesen wäre.
Und hätte es letztlich einen so großen Unterschied gemacht? Prinz oder Prinzessin in einer skurrilen Notlage - sollte man
nicht beiden helfen, schwul oder hetero hin oder her, rein oder raus? Argumentierte die Kröte nicht irgendwie mehr wie eine Frau?
Forderte sie nicht mehr wie eine verwöhnte, verzogene Prinzessin?
Also eine Prinzessin oder so etwas steckte da drin, ein Mensch jedenfalls, versuchte sich Paul zu konzentrieren und sich vorzustellen.
Das war jetzt nicht gerade einfach für ihn, als er sich der Kröte näherte.
Es wurde ernst und zögernd streckte er die offene Hand zur Kröte aus.
Gundula zögerte nun auch, nicht einfach, jemandem zu vertrauen, doch dann gab sie sich einen Ruck und sprang in Pauls Hand.
Der ging ein paar Schritte zurück, mitten in den Raum, hob die Hand näher zum Gesicht.
Eine Weile starrten sie sich gegenseitig an, kein Wort mehr, knisternde Spannung.
Sie schluckten beide mehrmals bei der unangenehmen Vorstellung solch eines Kusses.
Das war jetzt irgendwie kein Spaß mehr.
Gundula war buchstäblich in seiner Hand.
Und Paul dachte sich: 'Für was muß ich hier eigentlich eine Kröte küssen? Gut, immerhin muß ich keine schlucken...'
Paul zog die Stirn kraus, verzog erneut das Gesicht, schloß die Lippen fest und spitzte sie und
führte die Hand mit der Kröte zum Mund, schloß die Augen.
Und? Es passierte nichts!
Dann ertönte unsicher Gundulas quäkige Stimme ganz nah, mit recht nervösem Ton und verlegenen Verzögerungen:
"Ähm, Hallo? Also es ging ja darum, daß du mich küßt und nicht ich dich ...
ähm also du müßtest das schon übernehmen!"
Paul dachte nur: 'Was für ein nerviges Wesen, womit habe ich das verdient?
Sie hört einfach nicht auf, mir alles zuzuschieben und die Verantwortung noch oben drein - und ich kann mich darauf verlassen,
was immer auch passieren wird, die Schuld gibt sie mir sowieso - an allem. Und insbesondere wenn es gar keine Schuld gibt, wird diese Kröte trotzdem einen Grund finden, mir die Schuld an allem zu geben. Warum mache ich bei dem Blödsinn nur mit?'
Paul wußte aber auch, daß er nicht der Typ war, der eine um Hilfe bittende Kröte einfach wieder zurück in den Teich warf.
Er war nicht der Typ, der sie ohne zu Fragen oder gar gegen ihren Willen herausgefischt hätte.
Aber nun hatte er sich am Hals oder eher vor den Lippen, es gab kein Zurück!