Auch am Montag Morgen entdecke ich keine Nachricht in der Zeitung über einen toten Stiefelmann von Freitag Nacht, ebensowenig im Radio, welches ich ja seit Samstag Morgen immer wieder gehört habe.
Da die Vorlesung erst um 11 c.t. beginnt, entschließe ich mich, in der TIB Zeitungen zu wälzen. Nach der Vorlesung, die mich mehr gewohnsheitsmäßig ablenkt, beim Mittagessen die Idee, in der Landesbibliothek die Zeitungen einzusehen, was ich in die Tat umsetze, nachdem die Vorlesung von 14 s.t. um 15:30 zuende ist. Als die Landesbibliothek schließt, stellt sich mein Vorhaben als vergeblich heraus. Montag Abend bis tief in die Nacht vor dem Fernseher: Filme mit Toten, Morden, die ich nicht mit der Realität verbinde. Ich versuche zu schlafen, was nicht gelingt, obwohl ich müde bin, Computerspiele bis zum Morgen.
Beim Frühstück mein Entschluß, bei der Polizei nachzufragen wegen des toten Stiefelmannes von der Nacht von Freitag zu Samstag. Ich überlege, wie das zu realisieren wäre. Die Nummer der Kriminalpolizei habe ich in kürzester Zeit aus den Gelben Seiten: "Behörden ohne Hürden", alternativ wäre das dem Tatort nächstgelegene Polizeirevier möglich - ich entschließe mich dafür, die Nummer mit einer Stadtkarte und den Gelben Seiten ist ebenfalls schnell ermittelt. Da ich auch am Dienstag erst ab 11 c.t. eine Vorlesung habe, fahre ich mit der Üstra Richtung Leine-Einkaufscentrum. Zuvor nehme ich in einem Anfall von Verfolgungswahn alte Handschuhe aus dem Kleiderschrank, außerdem präpariere ich ausreichend Geldmünzen für den Fernsprecher mit dem Taschentuch, will keine Spuren zu mir zurück legen!
Der Anruf von der Telephonzelle mit verstellter Stimme: Ich hätte etwas gesehen in Bezug auf den Toten in der ...straße in der Nacht von Freitag zu Samstag. Der Mann am anderen Ende der Leitung weiß nichts von einem Toten, wie sich nach kurzem Gespräch herausstellt, hätte aber selbstverständlich gerne gewußt, wer da mit ihm spreche, was ich gesehen hätte, will mich offenbar in ein längeres Gespräch verwickeln, ich nenne ihm einen falschen Namen, doch von einem Toten weiß er trotzdem nichts, schlägt vor, solle einfach einmal auf dem Revier vorbeikommen, um zu erzählen, was ich gesehen hätte, auch wenn ihm nichts bekannt sei. Ich lege auf. Wie soll ich nun das Gespräch bewerten?
Möglichkeit 1:
Sie wollen nichts über den toten
Stiefelmann bekannt werden lassen, doch
warum? Sie müßten ein Interesse an
Zeugen haben, zumindest an Informationen, der
Typ hat doch nicht wirklich geglaubt, daß
ich mich dort blicken lasse! Selbst bei dem
Toten muß die Polizei versuchen, das
Verbrechen aufzuklären. Spuren
können jetzt wohl kaum noch verwischt
werden, wenn bisher noch nicht geschehen, das
Verhalten bleibt völlig rätselhaft,
deshalb erscheint mir diese Möglichkeit als
unwahrscheinlich.
Möglichkeit 2:
Die Kameraden haben ihren toten Anführer
beseitigt. Rituelle Begräbniszeremonien et
cetera geistern durch meinen Kopf. Möglich
ist bei denen alles. Besser paßt zu ihnen
aber, daß sie beim Anblick des Toten
untertauchen bis Gras über die Sache
gewachsen ist, die drei Affen als Vorbild: nichts
hören, nichts sehen, nichts sagen.
Möglichkeit 3:
Mein irrwitziger Gedanke, das alles sei gar nicht
passiert, oder nicht so passiert.
Das lehne ich ab, ich bilde mir das nicht alles ein.
Der Grund, warum ich dort war:
Ein frustrierter Studienkollege. Ich fahre mit der
Straßenbahn zu ihm, Übungszettel
Physik, eine Bearbeitung fällt auch mir
nicht leicht, sich Lösungen in einer Stunde
aus dem Finger zu saugen, wo ich, als ich den
Schein gemacht habe, Tage gebraucht habe, um
den Zettel zu lösen, ist nicht einfach.
Unser Entschluß ins Kino zu gehen,
später dann wieder zurück, in der
Nacht weiteres Rätseln um schlecht
gestellte Aufgaben. Da ich mehr begriffen habe,
ist mir klarer, was dem Aufgabensteller
selbstverständlich ist, das hilft ebenso wie
das gemeinsame 'Brainstorming' . Die Punkte
werden für den Schein gebraucht.
Irgendwann stehen dann doch brauchbare
Lösungsansätze auf dem Papier,
damit müßte er alleine weiter
kommen, hat ja noch das Wochenende und den
ganzen Montag, allerdings in der Regel auch
einen Anfall von spontaner Unlust, der das
ganze Wochenende zu dauern pflegt. Ich gehe
in der Nacht. Der Rest ist schon erzählt.
Doch ist es wirklich passiert, als ich aus der Hauseinfahrt trat, besser: Was ist wirklich passiert?
Ich zweifle an mir selbst, wegen eines Telephongesprächs mit einem Polizisten? Die Bilder im Kopf können doch nicht einfach so entstehen!
Möglichkeit 4:
Der Stiefelmann ist gar nicht tot; habe ich ihn
doch nur verletzt? Ich klammere mich einen
Augenblick an dieser Möglichkeit fest, doch
das ist lächerlich, das Messer war scharf,
der Schnitt hat den Hals tief aufgetrennt, viel
Blut.
Ich fahre jetzt mit der Straßenbahn quer durch die Stadt zur Universität beziehungsweise zum Institut, zur Vorlesung.
Was auf jeden Fall nachprüfbar ist: das Grübeln über dem Übungszettel am Freitag Abend bis in die Nacht. Ich hätte ohnehin am Montag nachmittag nach der Vorlesung in der TIB sein sollen statt in der Landesbibliothek, um die Aufgaben noch einmal in etwas größerer Runde durchzusprechen, heute ist Abgabetermin. Sie werden es auch ohne mich geschafft haben - bin ich der Hüter meines Studienkollegen? Wenn ich ihn treffe, eine Frage diesbezüglich schafft Gewißheit für den Freitag Abend. Das Gespräch wie zufällig auf das Kino gelenkt, der Durchbruch bei den Aufgaben in der Nacht. Das alles würde von ihm durch das Gespräch bestätigt werden. Aber die weiteren Ereignisse in der Nacht sind nicht mehr überprüfbar, wenn alle Beweise - das Messer, das Blut an meinen Händen - vernichtet sind. Die Fingernägel sind geschnitten, kein Blut auf der Kleidung, die irgendwann ohnehin komplett gewaschen sein wird. Die Vergangenheit ist nicht mehr anhand von Beweisen zu rekonstruieren.
Realität und Fiktion treten in Konkurrenz zueinander, werden zu gleichberechtigten Alternativen, man sucht sich die bequemere aus und lebt weiter. Doch wenn es keine bequemere gibt?
Eine mögliche Realität:
Ich stehe in der Hauseinfahrt, beobachte den
Überfall auf den Passanten, greife nicht
ein, schaue nur zu, das Opfer flüchtet,
der Anführer stolpert oder stolpert nicht,
die Verfolgung zur Straßenbahn, die
geglückte Flucht des Passanten, aber kein
Messer, kein von mir aufgetrennter Hals. Ich
habe nur zugeschaut. "Ich bin nicht schuld." Ich
bin gegangen, als sie das Opfer zur
Straßenbahn verfolgen, von einem Toten
habe ich nichts gesehen. So könnte es
doch gewesen sein, Fiktion oder Realität,
ohne Beweise wird die subjektive Rekonstruktion
der Vergangenheit zur Wahrheit, zur Anekdote,
die man in diesem Fall besser für sich
behielte. Doch welche Alternative ist für
mich die bequemere? Blutige Hände mit
einem Messer oder geballte Fäuste in der
Tasche, aber im Dunkeln bleibend und
anschließend seine Hände in Unschuld
waschend?
Ich schreibe die Vorlesung mechanisch mit. Essen in der Mensa. Um kurz nach 13 Uhr will ich die Mensa verlassen, zufällig treffe ich dabei K., sie will jetzt zum Essen, kommt auf mich zu, will natürlich mit mir sprechen, was verständlich ist. Ich kann aber jetzt nicht, was ich ihr nicht sagen kann, es hat nichts mit ihr zu tun, in meinem jetzigen fahrigen Zustand kann ich nicht mit ihr reden. Sie habe mich schon gestern gesehen, ich sie aber wohl nicht, sei gleich um die Ecke verschwunden. Das ist mir nicht aufgefallen, was aber vermutlich nichts daran geändert hätte, außerdem wäre mir gestern vor der Uni nicht einmal ein lebender Elefant statt des metallenen Pferdes aufgefallen. Ich gebe vor, zu einer Vorlesung zu müssen, wir verabreden uns immerhin für Mittwoch Mittag in der Halle der Mensa, gemeinsames Essen. Ich bin bei dem Gespräch betont kurz angebunden, das hätte nicht so extrem sein müssen, aber ich hätte jetzt niemanden ertragen können. Ich eile fort, nur die schnelle Verabredung war möglich. Ich eile noch draußen, als sie mich bestimmt nicht mehr sieht. Die Vorlesung beginnt erst um 14 c.t.. Trotzdem, jetzt ging es einfach nicht. Sicher müssen wir reden. Ich eile zur TIB, es ist noch Zeit, ich lese in einer Photozeitung, um mich abzulenken, mich zu beruhigen. auch die Vorlesung um 14 c.t. schreibe ich nur mechanisch mit, obwohl ich schon vor dem Freitag nicht wußte, warum ich in dieser Vorlesung sitze. Ich schreibe, bis auch das geschafft ist.
Mit der Straßenbahn nach Hause. Sicher ergeben sich bezüglich K. Fragen. Morgen werden sie auf mich zukommen. Morgen Mittag, trotzdem kann ich mich jetzt nicht damit beschäftigen. Die Frage, wie ich meine Vergangenheit, insbesondere die Nacht von Freitag auf Samstag interpretieren soll, ist nicht beiseite zu schieben, schon gar nicht mit reden über die Nacht darauf, deren Interpretation dagegen für mich zur Lappalie wird. Computerspiele, Fernsehen bis in die Nacht. Es gelingt mir dann aber einzuschlafen. Ich wache jedoch mehrmals auf, Erinnerungen, die sich in die Windungen meines Hirns tief eingegraben haben.