Daß ich am nächsten Morgen, ein Samstag, nichts über den Vorfall in der Zeitung lese, ist nicht erstaunlich, schließlich ist die Tat später in der Nacht geschehen, entweder nach Redaktionsschluß oder doch so spät, daß ein Bericht nicht mehr möglich gewesen wäre, selbst wenn die Tat innerhalb einer halben Stunde der Polizei (und der Presse) gemeldet worden wäre. Erstaunlich allerdings, daß das Radio nichts meldet, nichts in den Nachrichten über einen Stiefelmann mit aufgetrenntem Hals. Ich bin irritiert.
Konzentrieren kann ich mich auf nichts, den ganzen Samstag Ablenkung durch Computerspiele, blutige Hände, blutiges Messer in meiner Erinnerung. Ein kahlgeschorener Kopf in einer Blutlache, die mit dem Opfer anfahrende Straßenbahn, die gröhlenden Stiefelmänner, Momentaufnahmen meiner Flucht, die mir erst jetzt wieder einfallen. Wie konnte das passieren? Warum dieser Haßausbruch von mir? Wie konnte ich das tun? Warum auch jetzt noch keine Nachricht im Radio? Computerspiele, die mich kaum ablenken, bis zum Abend.
Schließlich halte ich die innere Unruhe nicht mehr aus, ich muß raus. Ich entschließe mich, zur Mensafete zu gehen, obwohl ich nicht weiß, was ich da soll, es wäre auch das erste Mal, doch ich muß mich ablenken und so fahre ich mit der Üstra Richtung Universität.
Angekommen ist die Musik wirklich laut, doch da ich eigentlich nicht weiß, was ich hier soll, bleibt der Ablenkungseffekt minimal. Durch die innere Unruhe getrieben, will ich schon wieder gehen, als ich K. erkenne, die ich flüchtig vom Sehen kenne. Da sie zufällig gerade in meine Richtung blickt, nicke ich ihr zu, sie nickt zurück und winkt mich kurzerhand herbei. Sie wirkt, wie ich zunächst meine, gelangweilt. Ich weiß nicht recht, was sagen, mache eine Bemerkung über die Lautstärke der Musik, ein Gespräch wird nicht möglich sein, während sie mich nur mit einer Geste auffordert, mich zu setzen. Es werden nun doch mit erhobenen Stimmen ein paar Belanglosigkeiten ausgetauscht, ich berichte, ich sei hier, weil ich mich gelangweilt hätte, es Zuhause nicht mehr ausgehalten hätte, daß ich aber auch hier eigentlich gleich wieder verschwinden wolle, sei bisher auch noch nicht auf einer Mensafete gewesen. Ein Fehler, überhaupt zu kommen. Sie stimmt zu, sei nur hier, weil F., von dem ich bisher annahm, daß sie mit diesem zusammen sei, auf die Idee gekommen sei und sie mitgeschleppt habe. Sie weist auf die Tanzfläche, wo ich erst jetzt F. sehe, wie er ziemlich eng mit einer Anderen tanzt, während die meisten anderen Paare ohne Körperkontakt Musik und Bewegung in Einklang zu bringen versuchen. Erst jetzt fällt mir auf, daß sie dies schon die ganze Zeit beobachtet hat. Das, was sich für mich bisher als Langeweile ihrerseits dargestellt hat, scheint sich nun als nur mühsam beherrschte Wut zu entpuppen, mit jedem Moment scheint sie innerlich mehr zu kochen. Er hätte sie überredet, dann habe er jedoch hier eine ehemalige Schulkameradin, wohl auch ehemalige Freundin entdeckt. Ich fühle mich etwas fehl am Platze, bleibe jedoch noch, weil für sie das Gespräch mit mir eine gewisse Ventilfunktion für den inneren Druck zu haben scheint. Trotzdem ist es für mich nicht gerade der beste Moment für die Probleme von anderen.
Als das Musikstück zuende ist, kommen beide von der Tanzfläche händchenhaltend zu uns. Auch F. kenne ich flüchtig, daher stellt er mir seine ehemalige Schulkameradin C. vor. K. will mit F. tanzen, zieht ihn beinahe hinter sich her. Während sie tanzen, erfahre ich von C. mehr über das Intimleben von F., obwohl ich nicht danach gefragt habe. Sie sei zwei Jahre jünger als F., war eine ganze Zeit lang während des Gymnasiums mit ihm zusammen, sie hätten sich jedoch öfter getrennt, F. dann kurzzeitig mit anderen zusammen, sie hätte sich an Eifersucht gewöhnt und es ihm auch manchmal mit gleicher Münze heimgezahlt, irgendwann dann Versöhnung und das Ganze von vorne. Als F. sein Studium begonnen habe, hätten sie sich aus den Augen verloren. Heute Wiedersehen. Ihr habe er erzählt, mit K. sei es praktisch vorbei, sie verstehe deshalb K.s bösartige Blicke nicht. Ich denke: Hat K. auch gewußt, daß es praktisch vorbei ist? Ich schaue dabei auf die Tanzfläche: Streit zwischen F. und K.. C. steht auf, geht hin, einen Moment lang wird die Auseinandersetzung heftiger, dann verschwinden C. und F. in eine andere Ecke. K. kommt wütend auf mich zu, bis sie bei mir ist, hat sie sich aber äußerlich wieder unter Kontrolle.
Ob ich immer noch gehen wolle, fragt sie, ich nicke. Sie schaut mich einen Augenblick überlegend an, jetzt wirklich ruhiger, es sei ihr etwas peinlich zu fragen, aber immerhin bestehe bei Frauen, zumal wenn sie nachts allein durch die Stadt müßten, ein deutlich höheres Risiko als für Männer oder mehrere Personen, überfallen zu werden, ob ich ihr also den Gefallen tun könne, sie auf dem Weg zu begleiten. Sie sieht dabei zunächst etwas verlegen in meine Augen, dann auf den Fußboden zwischen unseren Füßen. Ich stimme zu und wir brechen auf.
Wie sich draußen herausstellt, ist sie mit dem Fahrrad da, was ich mir eigentlich hätte denken können, da ich sie schon wiederholt mit dem bestimmt nicht billigen Sportrad gesehen habe. Nach kurzem Lachen sind wir uns einig, daran jedoch das Vorhaben nicht scheitern zu lassen, sie ist erleichtert. Da es zu Fuß aber nicht in akzeptabler Zeit zu schaffen ist und nur sie den Weg kennt, bleibt für mich nur der Gepäckträger. Wir starten, ich lege etwas zögernd und zaghaft meine Hände um ihre Taille, um mich festzuhalten.
Während der Fahrt Smalltalk über Vorlesungen und Dozenten, dann über das reale Risiko, Verbrechensopfer zu werden und die davon unter Umständen abweichende subjektive Einschätzung. Zumindest sind keine verdächtigen Gestalten auf dem Weg zu erkennen. Ich stimme ihr zu, als Mann die Gefahreneinschätzung einer Frau kaum nachvollziehen zu können. Was bei einem Mann schon Verfolgungswahn wäre, könne bei einer Frau durchaus eine realistische Einschätzung sein, wenngleich sie meint, das reale Risiko sei niedriger als die Schätzung, Belästigungen aber immerhin sehr häufig, da man aber vorher nicht wisse, ob nur idiotischer Macho oder Triebtäter, die Alternative zwischen dem Ertragen primitiver Anmache oder schierer Angst. Daß auch durchaus ein bewaffneter Mann, nur wenige Meter von seinen Kameraden entfernt Opfer eines Verbrechens werden kann, erzähle ich natürlich nicht, obwohl ich daran denken muß, was in der letzten Nacht passiert ist. Die Frage, warum sie sich in meiner Begleitung sicherer fühlt, verkneife ich mir. Obwohl sie mir in Anbetracht der Tat durchaus berechtigt erscheint, gehört sie nicht zu den möglichen Fragen in dieser Situation; sie könnte in mehrfacher Hinsicht mißverstanden werden. Die harmloseste Interpretation wäre wohl noch: Gedankenloser Scherz. Die Frage bleibt also ungestellt, obwohl berechtigt. Eine Feststellung immerhin scheint machbar: Ihre objektive Sicherheit steige nur geringfügig durch meine Anwesenheit, schließlich hätte ich nur ein paar Semester Physik studiert, nicht aber auch diverse (asiatische) Kampftechniken. Sie lacht, zunächst sei ihr subjektives Sicherheitsempfinden durch meine Anwesenheit befriedigt, außerdem seien wir zu zweit ein höheres Risiko für einen potentiellen Täter, zudem sei ja nicht bekannt, daß wir beide weder bewaffnet noch in Selbstverteidigung ausgebildet seien, das ist ein überzeugendes Argument.