I. ruft am späten Nachmittag an, ich könne sie wieder wie letzte Woche von der Sporthalle abholen, sie werde mich zum Essen einladen, ich könne gleich kommen. Das tue ich auch, werde schon an der Tür erwartet, durch die gerade mehrere Frauen aus dem Gebäude kommen, offenbar ist der Kurs vor kurzem beendet worden. I. gibt mir einen Kuß und meint, wir müßten noch warten, bis alle draußen seien, sie müsse noch abschließen. Das dauert aber nicht lange und sie kommt mit A. wieder heraus, erläutert, sie werde uns begleiten. So gehen wir, I. ist geradezu übermäßig gut gelaunt, wir unterhalten und amüsieren uns auf dem Weg. Übermütig ruft I. so laut sie kann meinen Namen in die Dunkelheit, ruft weiter, sie brauche mich, weil sie mich liebe. A. lacht vergnügt und wird dabei ganz rot im Gesicht. Ich will I. natürlich bei solchen Albernheiten nicht nachstehen, auch ich rufe daher mit voller Lautstärke I.s Namen, füge hinzu, sie werde bekommen, was sie brauche, weil ich sie liebte. I. legt den Arm um mich, küßt mich auf die Wange, und wir gehen weiter bis zu einer besseren Kneipe. A. lacht und ist doch unsicher, wieviel Abstand sie zu uns halten soll. Aber bevor sie zu sehr verunsichert wird, benehmen wir uns und gehen nur noch Hand in Hand und A. geht neben uns.
Drinnen in der Kneipe setzen wir uns. A. wählt wie ich einen Saft, I. will für sich zunächst Wein bestellen, überlegt es sich dann aber anders, wählt auch Saft. Wir bestellen das Essen.
I. erläutert, A. sei unter anderem mitgekommen, um von mir etwas über das Studium zu erfahren, sie sei noch unsicher, ob sie das tun solle, zumal ihre Familie eigentlich dagegen sei.
Ich frage A., was sie denn studieren möchte.
Ihr schwebt Mathematik vor, Physik, wie bei mir, käme auch in Frage, aber sie neige eher zu Mathematik.
I. meint, ich solle ihr gut zureden, sich gegen ihre Eltern durchzusetzen und zu tun, was sie wolle.
Ich meine, nach den hiesigen Gepflogenheiten sei sie ja alt genug, um selbst Entscheidungen zu treffen.
A. lacht, das sei eben das Problem, ihre Eltern und noch mehr ihr Bruder seien gegen ihre Selbständigkeit, aber sie sei nun einmal hier aufgewachsen, da werde sie nicht hinnehmen, daß ihre Familie für sie entscheide, sie wolle so leben, wie ihre deutschen Freundinnen und Mitschülerinnen auch, wenn sie aber Zuhause sei, sei es eine ganz andere Welt, so sitze sie zwischen den Stühlen, heimatlos.
Sie spreche türkisch ebenso gut wie deutsch. In deutsch schreiben könne sie natürlich genauso wie ihre deutschen Mitschülerinnen auch, türkisch zu schreiben, falle ihr schon schwer.
Sie könne die Ansichten und das Verhalten ihrer deutschen Mitschüler oft viel besser verstehen als die Ansichten ihrer Familie, dennoch könne sie sich im Sommer niemals so anziehen wie die Mitschülerinnen, zwar trage sie nie einen Schleier, aber sie folge weitgehend den zurückhaltenderen Kleidervorstellungen ihrer Familie und ihrer türkischen Bekannten.
Wo ihre Freundinnen teilweise schon feste Freunde hätten, sei bei ihr ein unauffälliger Flirt, ein Kuß im Verborgenen, eine Umarmung mit der Zusicherung der Verschwiegenheit von einem deutschen Jungen schon das Äußerste, sie müsse ihm allerdings klarmachen, daß mehr nicht drin sei, müsse ihn sogar auf Distanz halten, damit er keine Schwierigkeiten bekomme. Bei einem türkischen Jungen sei nicht einmal das möglich, denn sie sei schon längst im heiratsfähigen Alter, sie könnte nicht sicher sein, daß ihre Familien nicht irgendwann und irgendwie dahinterkämen, dann wäre eine Katastrophe vorprogrammiert. Unfair sei natürlich auch, daß die Jungs sich fast alles erlauben dürften, Mädchen hingegen nicht.
Sie könne nicht wie eine Deutsche leben, und das Türkische sei ihr im Grunde beinahe so fremd wie uns, dennoch müsse sie Zuhause immer damit fertig werden, und es werde auch nicht leichter.
Sie habe schon Angst zu sagen, daß sie studieren wolle, das gebe nur Schwierigkeiten, dennoch sei sie auch nicht bereit, sich den konservativen Vorstellungen ihrer Familie unterzuordnen, da sie nichts mit ihren eigenen zu tun hätten. Sie sehe ja, daß mit der hiesigen Lebensweise nicht alles gut sei, aber die Alternative sei auf keinen Fall akzeptabel. Sie meint, sie habe sich aber nun genug darüber ausgelassen, ich solle lieber etwas über das Studium erzählen.
Ich beginne, einerseits sehe sie ja an I., daß es nicht unbedingt notwendig sei zu studieren, um zurechtzukommen. Andererseits sollte sie es tun, wenn sie sich dazu berufen fühle, Interesse am Studium, am Wissen selbst habe. Insbesondere in Physik und Mathematik gebe es noch immer erheblich mehr männliche als weibliche Studenten, so daß sie in diesem Bereich mithelfen könne, Defizite aufzuarbeiten. Die Verhältnisse seien bei technischen Fächern noch deutlich ärger, da wäre sie dann beinahe schon wieder Exotin, bei Physik und Mathematik halte sich das aber in Grenzen. Generell hätten die Studenten bei solchen Fächern wohl oft genug mit dem Studium zu tun, besonders zu Beginn, da müsse sie also besondere Zudringlichkeiten wegen Herkunft oder Geschlecht nicht befürchten. Mehr komme es bei der Studienwahl daher natürlich auf die Inhalte an, die nicht unbedingt mit den entsprechenden Fächern in der Schule vergleichbar seien. Häufig ziele das Studium in den Fächern ja nicht auf einen speziellen, späteren Beruf ab, vermittle mehr ein allgemeines Wissen, welches man dann selbständig ausbauen müsse. Generell sei im Studium ja viel mehr Selbständigkeit, Eigenverantwortung und Selbstmotivation gefragt als an der Schule, wo ja doch viel vorgegeben werde und auch kontrolliert, das letztere sei an der Universität in dem Umfange nicht mehr der Fall.
So erzähle ich während des Essens und noch danach, auch Zwischenfragen beantwortend, was insgesamt gut möglich ist, da vor dem Vordiplom die gleichen Mathematikvorlesungen sowohl von Mathematikern als auch von Physikern besucht werden, auch über das Physikstudium erzähle ich und beantworte ihre Fragen, so gut ich kann.
Sie findet beiden Möglichkeiten interessant. Insbesondere die präzise logische Analyse und die Beweistechniken, das detaillierte Verständnis interessieren sie an der Mathematik. Hinsichtlich der Physik kann sie aber auch gut mein Interesse nachvollziehen, besser verstehen zu wollen, wie die Welt gut oder besser als früher beschrieben werden kann und wie man mit Experimenten Hypothesen prüfen kann. Ich weise auch auf die zunehmende Bedeutung der Numerik in beiden Fächern hin und die Bedeutung, die Computer inzwischen hätten. Auch dieser Aspekt weckt A.s Aufmerksamkeit, eine weitere Möglichkeit. A. zeigt sich wirklich sehr interessiert und stellt gute Fragen, die unser Gespräch abwechslungsreich machen und bereits zeigen, daß die anvisierten Studienfächer ihr viel bringen würden, weshalb ich sie ermuntere, sich unbedingt zu kümmern und sich nicht demotivieren zu lassen, sondern an den eigenen Ideen um die Gestaltung ihrer näheren Zukunft unbedingt festzuhalten. Auch I. redet ihr zu und A. scheint nun wirklich ermutigt und in ihrem Wunsch bestärkt zu sein, selbst zu entscheiden, was sich nach dem Abitur machen wolle. Unser Gespräch hat sie sichtlich vorangebracht und sie zeigt sich bereits in der kurzen Zeit deutlich kampfbereiter, um ihre Position durchzusetzen.
Während ich mich also sehr angeregt mit A. über Mathematik und Physik unterhalte, kann I. nicht so viel zur Unterhaltung beitragen, ich bemerke, wie genau sie uns beobachtet. Da ich nicht möchte, daß sie sich ausgeschlossen fühlt und auch keine Verwirrung aufkommen soll, weil ich mich wirklich auf Anhieb sehr gut mit A. verstehe, leite ich dann das Gesprächsthema bald wieder in Bahnen, wo I. sie wieder besser beteiligen kann. Wirklich wirkt sie gleich etwas erleichtert und entspannt sich.
So amüsieren wir uns gut, lachen und philosophieren recht unbeschwert. Irgendwie kommen wir dann auch noch auf die Implikationen der Naturwissenschaften für Religionen zu sprechen. Es stellt sich heraus, daß beide nicht religiös interessiert sind, A. möchte das allerdings vertraulich behandelt wissen. Jedenfalls steuere ich dann noch einige meiner atheistischen Hypothesen zum Gespräch bei und wir führen eine angeregte Diskussion.
Dabei stellt sich heraus, I. hat wohl zwar mal an einen Gott geglaubt, auch durch den Vergewaltigungsversuch in der Kindheit mit der eher profanen, schmucklosen Realität konfrontiert, hat sie dann allerdings schnell zu der Erkenntnis gefunden, daß es für solch eine Gestalt keine Belege gibt. Und was über ihn behauptet wird, paßt sowieso nicht zu dem, was man täglich mit seinen Mitmenschen erlebt. Ein Gott der Liebe, der Güte, eine Gemeinschaft der Nächstenliebe? In der Praxis nicht nachvollziehbar.
A. waren auch schon länger Zweifel gekommen, vieles passe einfach nicht, meint sie, insbesondere wenn Menschen darauf bestehen, daß es exakt einen Gott, den ihrer Vorstellung geben solle und sonst keinen. Zwangsläufig würden dann ziemliche viele Menschen daneben liegen, woher solle man also wissen, mit welcher Religion man richtig liege? Und bei einer Auf- oder Abspaltung - seien da nicht beide Richtungen der Meinung, dem wahren, richtigen Weg mit Gottes Hilfe zu folgen? Ja, wenn sie sogar behaupten, Gott führe sie auf ihrem Weg, erleuchte sie - wie komme es da dann zu Vorstellungen unterschiedlicher Götter, das könne dann ja nicht alles echt sein, vermutlich dann doch eher alles Hirngespinste. Diese und ein paar andere Einwände diskutieren wir noch weiter.
Einmal mehr folge ich bei dem angeregten Gespräch begeistert I.s schnellen Gedankengängen, die sich bislang kaum mit philosophischen und logischen Aspekten solcher Themen beschäftigt hat, hier aber spontan gut, einfach und überzeugend argumentiert, wobei wir in dieser Runde ja allerdings niemanden finden, der die Gegenseite ernsthaft vertreten mag.
Direkt nach dem Essen hat A. ihren Bruder angerufen, der dann auch bald kommt, während wir noch weiter angeregt plaudern. Irgendwie ist zwischen uns dreien ausgemacht, daß wir gut ab und an mal etwas miteinander unternehmen könnten, um weiter miteinander zu reden und zu philosophieren, A. weiter auf ihrem eigenen Weg voranzubringen. I. und A. sind ja ohnehin bereits miteinander befreundet und mit mir kommt A. offenbar auch sehr gut zurecht, von daher ist unsere Stimmung recht ausgelassen und vergnügt.
A.s Bruder kommt dann an den Tisch, und es findet zwischen ihm und A. ein aufgeregtes Gespräch auf türkisch statt, welches immer lauter wird, wiederholt weist er dabei auf mich und regt sich ziemlich auf. Beide stehen sich gegenüber und reden aufeinander ein, bis A. mit einer Hand auf die Tür weist und mit der anderen ihren Bruder in der Richtung gegen die Schulter drückt. Ihre gesamte Haltung wirkt angespannt, fast schon die Verteidigungsstellung von ihrem Kampfsport, jedenfalls ein subtiles, aber recht eindeutiges Zeichen, daß es nun besser sein wird, keine falsche Aktion durchzuführen. Gleichzeitig merke ich, wie auch I. sich unwillkürlich anspannt, quasi sprungbereit ist. Die zuvor fröhliche Stimmung ist schlagartig umgeschlagen und wirkt plötzlich sehr brenzlig, explosiv. A. und ihr Bruder wechseln noch ein paar Worte, er will sie mitzerren, sie entwendet sich geschickt seinem Griff, macht ihm gegenüber eine drohende Geste, nimmt jetzt eindeutig eine Kampfposition ein, I zuckt, greift meine Hand und steht nun auch plötzlich. Der Bruder von A. hat nun offenbar die Zeichen erkannt und schließlich zieht er verärgert schimpfend wieder ab.
A. entschuldigt sich, ihr Bruder habe mich wohl letzte Woche schon gesehen, als sie mir geöffnet habe, außerdem sei ihm nicht Recht gewesen, daß sie mit uns hierher gegangen sei. Er sei der irrigen Ansicht gewesen, ihre Ehre sei durch mich in Gefahr. Sie habe natürlich gesagt, daß dem bedauerlicher Weise für sie nicht so sei, da ich I.s Freund sei, was er zunächst einmal so habe hinnehmen müssen, weil ja I. meine Hand gehalten, und ich mich nicht in den Streit eingemischt habe, trotzdem habe er ihr den weiteren Besuch des Trainings verbieten wollen, da habe sie ihn fortgeschickt, habe ihm gedroht, bis er gegangen sei. Er sei unmöglich, was er ihr alles unterstellt habe, dabei wolle sie nur in Ruhe ihr Leben leben wie er das seine. Manchmal denke sie, sie sollte nur mit einem Mann ins Bett gehen, um es ihrem Bruder zu zeigen, doch dann denke sie wieder, er sei es nicht Wert, daß sie seinetwegen ihr Leben vermurkse, wenn sie es nur täte, um ihn zu treffen, statt sich sicher zu sein, jemanden gefunden zu habe, mit dem sie es um ihrer und seiner selbst Willen tun wolle.
Sie beruhigt sich bald wieder, die brenzlige Stimmung normalisiert sich wieder. Wir unterhalten uns noch eine Weile und die Stimmung wird wieder besser. Bald lachen wir schon wieder und machen Scherze, albern herum und I. bringt dann irgendwann A. und mich dazu, offiziell Freundschaft zu schließen, was so förmlich schon etwas skurril wirkt, aber I. neigt zur klaren Ansage und so folgen wir. Ich bin deswegen sogar richtig erleichtert, denn nachdem I. anfangs so wenig zu dem intensiven Gespräch zwischen mir und A. hat beitragen können, dachte ich schon, das würde auf I.s Stimmung schlagen, doch nun sieht das viel besser aus und I. scheint sehr daran gelegen zu sein, mich in ihr recht überschaubares soziales Umfeld harmonisch zu integrieren.
Draußen vor der Kneipe bittet A. uns, sie nach Hause zu bringen, damit sich ihr Bruder nicht noch darüber aufregen könne, daß sie ohne solide Begleitung nachts unterwegs gewesen sei. Das tun wir, wir bringen sie bis zur Wohnungstür. Es kommt wieder zu einer Diskussion zwischen ihr und ihrem Bruder. Auch ihr Vater kommt dazu. I. versichert, daß sie mit uns nach dem Training nur essen gegangen sei und wir uns über Perspektiven nach der Schule unterhalten hätten, was ihr sehr geholfen habe. Offenbar ist A.s Vater einsichtiger als ihr Bruder und meint zu diesem, es solle nun Ruhe geben. Ihr Bruder muß sich dem Wohl oder Übel fügen, und wir gehen.