Einerseits hatte ich es gut getroffen, Michael in jenem Forum und dann im chat
kennengelernt zu haben. Offen gesagt hatte ich keine Ahnung, wie eine internet-Seite
erstellt wird und so erleichterten mir seine Tips den Einstieg sehr.
Als ich dann voller Stolz meine ersten Entwürfe präsentierte, ärgerte
ich mich natürlich sehr, als statt des erhofften Lobes harte Kritik kam. Nachdem
ich die erste Enttäuschung verkraftet hatte, erkannte ich, daß die Kritik
viel detaillierten Inhalt enthielt und konstruktive Hinweise, wie es besser geht.
Auch Quellen im internet gab er an, wo ich dazu lernen konnte.
Anfangs lustig, dann aber doch immer interessanter erschienen mir seine philosophischen
Anmerkungen zum Medium internet. Einiges ärgerte mich sogar, wie scheinbar
negativ er vieles sah, was ich für innovativ hielt. Ich ärgerte mich und
hätte beinahe den Kontakt abgebrochen. Aber ich las die Texte, die er mir nannte
und erkannte allmählich, daß viele Fehlentwicklungen, die er kritisierte,
gerade jene traf, für die ich mich einsetzen wollte: Behinderte. Dabei betonte er
immer wieder, daß es eben nicht nur um Minderheiten wie Blinde gehe, sondern
aus verschiedenen Gründen mit ungeeigneten Techniken ganz verschiedene
Gruppen ausgegrenzt werden, aufgrund von Alter, technischer Ausstattung oder auch
nur aufgrund des benutzten Betriebssystems - und das in einem Medium, welches vom
Anfang an allen gleichermaßen zur Verfügung stehen sollte.
Ich mußte das alles erst einmal ein paar Tage verdauen, und den verletzten Stolz etwas pflegen. Je mehr ich mich aber informierte, desto begeisterter wurde ich und sah ein, daß er in fast allem Recht hatte. Gerade bei meinem Projekt für Behinderte wäre es absurd gewesen, eine Seite technisch so zu gestalten, daß neue Barrieren aufgebaut werden, gegen die wir ja gerade kämpften. Was sollte ich schließlich mit einer Seite, die nicht garantiert für alle zugänglich wäre. Je mehr ich mich umschaute, umso bedrückter wurde ich wegen der vielen bereits vorhandenen Hürden und der Schwierigkeiten bei bereits vorhandenen Standardlösungen, die Leute erstellt hatten, die sich um Minderheiten offenbar nicht scherten und zwar technisch zu vielem fähig sein mochten, sich aber mit dem Medium und seinen Besonderheiten offenbar überhaupt nicht auseinandergesetzt hatten. Und ich wäre beinahe in die gleiche Falle getappt.
Ich hoffte, mein tagelanges Schweigen hatte ihn nicht verärgert und mich dumm
erscheinen lassen. Ich fand ihn bereits anfangs ganz nett. Dann schockierte mich seine
bedingungslose Härte in der Analyse von Mängeln. Daraufhin schätzte
ich aber gerade wieder das. Eine bessere Hilfe und einen ehrlicheren Kritiker hätte
ich mir gar nicht wünschen können.
Zum Glück hatte er mein Schweigen nicht übel genommen und bei einer email
wagte ich es dann erstmals, ganz vorsichtig und nebenbei nach Persönlichem zu fragen.
Sein Beruf und seine Beschäftigung mit webservern und verschiedenen internet-Projekten
erklärte dann natürlich, warum er auf dem Gebiet so viel Ahnung hatte, vor
allem aber, wie es ihm gelingen konnte, blitzschnell und mit scharfen Verstand die
Schwächen eines Projektes zu analysieren.
Die Portraits auf seinen privaten Seiten gefielen mir sehr gut und ebenso, was ich sonst
über ihn erfuhr - ein richtiger Mann mit eigenem Kopf, attraktiv, aber kein
Modell, mit Ecken und Kanten und nicht hormongesteuert.
Ich selber antwortete etwas ausweichend, denn eigentlich war alles gut, so wie es war und
er mußte ja nicht gleich alles über mich erfahren. Kritisch war dabei
natürlich, daß wir auch noch zufällig in der gleichen Stadt lebten.
Wenn ich es mir recht überlege, hatte ich da schon Angst, daß er enttäuscht
wäre, wenn er mich persönlich kennenlernte. Ich hatte Angst vor seiner
Reaktion, gerade weil ich ihn so schätzte. Seit ich den Unfall hatte, war es mit
meinem Selbstvertrauen ohnehin nicht mehr allzu weit her, wozu natürlich die
allgegenwärtigen Probleme als Rollstuhlfahrerin ebenfalls beitrugen sowie auch
die Unterschätzung durch andere.
So suchte ich ihn etwas auf Distanz zu halten, vielleicht gerade, weil er mir immer
sympathischer wurde und ich es genoß, mich mit ihm auseinanderzusetzen.