Geschrieben: 1993-07-27/08-06, 2015-01-09/18
N. weckt uns. Neugierig fragt sie, ob es diese Nacht passiert sei? M. antwortet, es sei nicht passiert; N. fragt erstaunt: Warum nicht? M. erwidert, das ob und wann und warum gehe zunächst eigentlich nur uns etwas an, doch wenn es passiert sei, werde sie es ihr mitteilen. N. hebt beschwichtigend die Hände, so ernst habe sie es ja gar nicht gemeint.
Doch was wichtiger sei, es sei leider schon spät, sie habe irgendwie verschlafen. Und wenn M. nicht schnell die Brötchen hole, während sie das Frühstück vorbereite, sei es nicht mehr bis zu P.s Erscheinen zu schaffen, und M. lege doch immer so großen Wert auf Zuverlässigkeit. M. schaut auf die Uhr, springt auf, läuft ins Bad und beschwert sich bei N., daß sie sich nie zusammenreißen könne und nie etwas richtig tue, fragt, wie viele Brötchen und ob sonst noch etwas zu besorgen sei, dann sind sie schon wieder im Zimmer, sie zieht sich hastig an, wirft mir das geschenkte Kettchen zu, stellt ihren Fuß auf die Bettkante, ich lege ihr das Kettchen ums Fußgelenk, während sie ihr Hemd zuknöpft, den Rock schließt, dann schlüpft sie in ihre Schuhe, gibt mir noch einen Kuß auf die Wange und ist schon durch die Tür draußen.
N. steht in aller Ruhe vor dem Bett, lächelt, eigentlich habe sie M. nur für ein paar Minuten loswerden wollen, um mit mir alleine sprechen zu können, das Frühstück sei so gut wie fertig, auch Tee und Kaffee werden bis 9 Uhr noch fertig werden. Als M. von mir erzählt habe, habe sie sie nach meinem Namen gefragt, doch sie habe nicht einmal meinen Nachnamen gekannt, habe nicht gewußt, wo ich wohne, gerade so, daß ich Physik studiere, doch nach Namen und Anschrift habe sie nicht gefragt, offenbar habe sie grenzenloses Vertrauen zu mir, denn sie habe auch nichts davon hören wollen, mich danach zu fragen, weil es bisher für sie nicht wichtig gewesen sei. Sie finde es aber wichtig, sie könne nicht zulassen, daß da einfach jemand von einem Tag zum anderen in M.s Leben trete und jederzeit die Gelegenheit habe, genauso wieder zu verschwinden, schließlich hätte sie sich dann mit M. herumzuärgern. Sie wolle Namen und Adresse wissen, um sie dann M. geben zu können, wenn sie plötzlich nichts mehr von mir hören sollte.
Ich lache, tatsächlich habe das bisher keine Rolle gespielt, ich hätte ihren Nachnamen auch nur vom Türschild erfahren. Bei mir seien wir bisher nicht gewesen, weil wir uns aus nicht geklärten Gründen bis heute immer hier getroffen hätten. Immerhin sei aber auch mein Bett nicht breiter als das ihre, allerdings sei diese Wohnung schöner und das Zimmer ebenfalls. Außerdem, wenn ich wirklich verschwunden wäre, hätte M. meine Adresse jederzeit über die gemeinsame Bekannte C. in Erfahrung bringen können.
Ich stehe auf, gehe zu meiner Jacke und suche eine meiner mit dem Computer und Drucker selbst gefertigten Visitenkarten hervor und gebe sie ihr zusammen mit meinem Ausweis, damit ist sie zufrieden, ich gehe ins Bad, durch die Tür unterhalten wir uns weiter. Sie meint in Anspielung auf die gestrige Begrüßung, wenn ich sie wirklich für ebenso attraktiv halte wie M., müßte sie mir doch auch gefallen, auch ich gefalle ihr und wenn ich wollte, ich müsse es nur sagen, würde sie mich gerne einmal vernaschen wollen, natürlich nur ein bedeutungsloses Abenteuer, einfach nur Spaß miteinander haben, da M. ja offenbar noch nicht soweit sei, sei das doch eine gute Möglichkeit für mich, ich müsse nur den Zeitpunkt nennen, einen geeigneten Ort, vielleicht bei mir, sie werde kommen, die Adresse hätte ich ihr ja schon gegeben.
Ich möchte von ihr wissen, ob sie testen möchte, ob ich für ihre Schwester geeignet sei, ob ich für sie ein guter Liebhaber sei, oder wolle sie nur in Erfahrung bringen, ob M. mir wirklich bedingungslos vertrauen könne. Unter anderen Umständen wäre ihr Angebot sicher sehr interessant gewesen, doch könne sie sich sicher vorstellen, welche Auswirkungen es für M. hätte, wenn sie herausbekäme, daß ihre Schwester und ihr Geliebter es miteinander getrieben hätten, sie würde doch das mühsam erlangte Vertrauen zu den Gefühlen anderer Menschen wieder völlig verlieren, das könne sie ihr nicht ernsthaft antun wollen und ich erst recht nicht.
Sie gibt zu, sie hätte bei mir als intelligentem Menschen damit rechnen müssen, daß ich mißtrauisch sei, doch sie habe auch wirklich Interesse an mir, hakt weiter nach, M. müsse es ja nicht erfahren, sie werde ihr bestimmt kein Wort davon sagen, wenn ich bei ihr auch noch ein ganz guter Liebhaber sei, sei sie wenigstens wegen M. völlig beruhigt.
Ich komme aus dem Bad, gehe amüsiert in M.s Zimmer, sie kommt mir nach, wir schauen uns in die Augen. Ich schaue ihr tief in die Augen und führe aus: Wenn M. herausbekäme, daß ihre Schwester ihrem Geliebten ernsthaft solche Angebote mache, würde das doch eine wirklich arge Enttäuschung für sie sein. Solange mich M. nicht davon überzeuge, daß sie es wolle, werde ich das Angebot nicht einmal in Erwägung ziehen. Sie streicht mit einer Hand über meinen Brustkorb, meint, mir werde etwas entgehen, ich fasse ihre Hand, halte sie fest, ergänze, man könne eben nicht alles haben. Ich ziehe mich an.
Sie meint, wenigstens habe sie nun den Eindruck, daß ich M. nicht hintergehen wolle, aber schade sei es doch. Dann aber grinst sie frech - es sei natürlich nur ein Witz, sie würde sich doch nicht am besten Stück ihrer Schwester vergreifen. Wir müssen beide lachen.
Dann hören wir auch schon jemanden die Treppe hocheilen, N. geht schnell in die Küche, M. schließt die Wohnungstür auf, geht mit den Brötchen in die Küche. Ich habe mich inzwischen angezogen und folge ihr.
Tatsächlich ist der Tisch bereits fertig gedeckt. N. stellt gerade den Tee über eine Kerze, auch der Kaffee ist bereits durch die Maschine gelaufen. Es fehlt nur noch P., der einen Moment später klingelt. N. öffnet über die Gegensprechanlage. Als er oben ist, werden wir einander kurz vorgestellt, und wir beginnen zu frühstücken.
Zwischen N. und P. geht es zunächst noch darum, was P. gestern noch gemacht habe, daß er etwa zuhause angerufen habe, daß er gut angekommen sei. Auch N. erzählt ihm, sie habe das getan.
Nach einer kleinen Pause sagt N. zu M., sie habe gestern Nachmittag von drei Gedichten erzählt, die ich für sie geschrieben hätte, sie seien aber nicht mehr dazu gekommen, sie zu lesen. M. steht daraufhin auf, eilt in ihr Zimmer und holt sie. Die ersten beiden liest sie vor, drückt dann N. die Zettel in die Hand und trägt das dritte frei und frech grinsend vor.
P. und N. tun fröhlich ihr Lob kund, M. meint jedoch, so billig komme N. nicht davon, die ersten beiden seien ja mehr episch, aber jetzt müsse sie das dritte auch interpretieren, wo sie schon so ausführlich danach verlangt habe, dabei grinst sie mich vergnügt an, damit der Autor sehen könne, ob man seine Gedichte auch verstehe.
N. überlegt einen Moment, sagt dann "also gut, Schulprüfung oder was, glaubst, daß ich nie aufgepaßt habe, was?", nimmt sich den Zettel mit dem Gedicht und beginnt: Was wolle uns der Autor damit sagen? Zunächst das Formale, es handele sich um ein Sonett, gereimt. Schon die Überschrift "Liebesgedicht für dich (oder alternativ alle anderen Frauen, die ich hätte lieben können)" deute darauf hin, daß es sich um ein Liebesgedicht handeln könne, wenngleich das in Klammern gesetzte schon mit einer gewissen Ironie erkennen lasse, daß der Autor, die klassische Form und das klassische Thema wählend, eben dieses nicht ganz ernst nehme, was auch daran zu erkennen sei, daß im zweiten Quartett das Reimschema nicht ganz stimme. Außerdem sei das Gedicht durch die Klammer sehr ökonomisch, sollte er bei dieser keinen Erfolg mit seiner Werbung haben, könne es bei anderen Gelegenheiten immer wieder verwendet werden, was die Angeredete auch als Mahnung verstehen könne, wenn sie nicht darauf eingehe, werde er es bei einer anderen probieren.
Die erste Zeile "Duuuuu meine Liebe!" höre sich beinahe so an wie "Du meine Güte!" ein Erschrecken oder Erstaunen über ein Ereignis. Andererseits sei aber die direkte Anrede vorhanden, wobei "mein" wohl nicht als Besitzanspruch gewertet werden könne, sondern eher beschreibe, wie Schreiber und Leserin zueinander in Beziehung stehen. Da in der nächsten Zeile etwas von "Glück" stehe, könne man schließen, daß es sich in der ersten Zeile mehr um Erstaunen als Erschrecken handele. Der Autor sei also von seinen Gefühlen, die er mit "meine Liebe" für sie zum Ausdruck bringe, erstaunt, das sei ihm wahrscheinlich nicht sehr vertraut, wenngleich er durchaus begeistert zu sein scheine, was man an den Ausrufezeichen erkennen könne.
Die zweite Zeile sei zunächst nur schwer zu interpretieren, was könne er mit Schlüsselbund meinen? Das einzige, was ihr einfalle, sei der Schlüssel zu seinem Herzen - das Herz als eine Metapher für seine Liebe.
Darauf wirft M. ein, dazu falle ihr ein anderes, sehr altes Gedicht mit unbekanntem Verfasser ein, welches sehr gut dazu passe:
Dû bist mîn
- Dû bist mîn, ich bin dîn:
- des solt dû gewis sîn.
- dû bist beslozzen
- in mînem herzen,
- verlorn ist daz sluzzelîn:
- dû muost immêr darinne sîn.
Sie trägt das so gekonnt vor, daß wir alle amüsiert lachen müssen. N. meint, das wiederum könne der Schlüssel zur Interpretation der Zeile sein. Wie der eingeklammerte Teil der Überschrift schon andeute, der Autor habe ein großes Herz mit vielen Kammern, deshalb auch der Schlüsselbund. Von der ersten Zeile wüßten wir, daß er die Angesprochene schon ins Herz geschlossen habe, wenn nun das Schlüsselbund zerspringe, gingen alle Schlüssel verloren, und er könne keine andere mehr einschließen, nur jene eine, die schon drin sei, müsse bleiben, es sei denn, sie breche ihm das Herz um aus ihm zu fliehen.
Mit der nächsten Zeile werde klar, daß es sich bei seiner Liebe nicht um die platonische handele, wenn er seine Triebe spüre und ihr das auch noch offen kundtue - dies betone er in der nächsten Zeile - so rede er nicht lange um den heißen Brei herum, was in einem Sonett auch kaum möglich sei, sondern bringe es mit diesen beiden Zeilen eigentlich schon auf den Punkt: Er wolle es mit ihr treiben. Durch diese direkte Aussprache wisse sie von Anfang an, woran sie mit ihm sei, die weiteren Strophen brächten aber noch mehr Details.
Platonische Liebe kommt mir vor wie ein ewiges Zielen und Niemals-Losdrücken.
Wilhelm Busch
In der nächsten Strophe erläutere er also sein Begehren genauer.
Er wolle
'Ein(en) Regenbogen der Gefühle
Wie die Spektren der Moleküle',
diese beiden Zeilen deuteten eine deformation professionelle an, wenn man wisse,
daß der Autor Physiker sei.
Mit den Spektren der Moleküle sei er vertraut, hier stehe er auf festem Boden,
während das Erstaunen über die Liebe, die in der ersten Zeile der ersten Strophe anklinge, andeute,
daß er mit der Welt der Gefühle weit weniger vertraut sei.
Ich ergänze: Gewissermaßen sei ja auch der Regenbogen ein Spektrum, ein Spektrum der Sonnenstrahlung.
N. dankt für die Hintergrundinformation; hier versuche also der Autor, das Begehren zunächst mit den Vertrauten Verfahren einzuordnen, wobei mit dem Sonnenspektrum im Regenbogen ja auch auf die Metapher 'Sonne' für die angebetete Geliebte, die alles überstrahlende, Wärme oder sogar Hitze verbreitende verwiesen werde. Mit dem 'Regenbogen der Gefühle' komme jedoch vor allem zum Ausdruck, daß er mit ihr das ganze Spektrum ihrer Gefühle erleben möchte, von der Traurigkeit und dem Schmerz über den Streit und die Versöhnung bis zur Freude, Lust und zum Glück; er möchte ihre ganze Gefühlswelt kennenlernen, das könne aber mit einer kurzen, flüchtigen Affäre nicht erreicht werden, sie müsse sich also auf eine lange Beziehung einrichten, wenn sie sich mit ihm einlasse.
Weiter möchte er ihre "Augen-Blicke auffangen". Das sei ein mehrdeutiges Wortspiel, zunächst einmal möchte er offenbar die Blicke ihrer Augen, also ihre Aufmerksamkeit auf sich lenken, möchte, daß sie ihm Augenblicke ihres Lebens schenke, doch könne man da noch mehr sehen, es müsse sich um bestimmte Augenblicke handeln, denn er wolle ja, wie zuvor festgestellt, eine lange Beziehung, keine kurze Affäre, also nicht nur ein paar Augenblicke, was er meine, seien eben doch ganz bestimmte Augenblicke, in diesem Zusammenhang könne es sich nur um die Momente ihrer höchsten Lust handeln, diese Höhepunkte wolle er! Das impliziere seine Bereitschaft, sich mit ihr viel Mühe zu geben, damit sie diese auch erreiche, so dürfe sie hoffen, daß er es nicht nur zu seiner Befriedigung mit ihr treiben wolle, sondern ebenso ihre Lust, ihre Befriedigung miterleben wolle, er diese Empfindungen ganz in sich aufnehmen wolle, sie "auffangen".
Mit der letzten Zeile begehre er auch ihren Kuß, das möge nach dem vorherigen wenig erscheinen, doch dürfe das nicht unterschätzt werden, habe doch der Kuß eine ganz besonders intime Bedeutung, die nicht nur den Sexualtrieb betreffe, sondern für den Austausch aller möglichen Zärtlichkeiten stehe, die gegenseitige starke Sympathie und Annahme, ein Ausdruck der Liebe eben.
In der dritten Strophe spreche er von ihren Grübchen beim Lachen, auch das möge zunächst wenig erscheinen, doch widme er dem immerhin eine ganze Strophe, denn das Lachen mit den Grübchen ist das unbefangene, offene Lachen, welches wieder Sympathie für das Gegenüber ausdrücke und Vertrautheit, es handele sich nicht um das Lachen des Auslachens oder das Lachen des Lächerlichmachens, das boshafte Lachen oder triumphierende Lachen, es handele sich um das Lachen der Annahme des Gegenübers, des Akzeptierens, so wie er sei. Und wenn er vom Zauber ihres Lächelns schwärme, nachdem es ihn begehre, gehe es genau darum, daß er ihre ganze Zuneigung und Liebe in diesem vertraulichen Lächeln erkennen möchte, was für ihn zum Zauber werde, weil er dann seine Gefühle in ihr wiedererkenne, er sehe: Seine Liebe werde erwidert, er dürfe sich angenommen fühlen, sein Werben sei erfolgreich gewesen, die Angesprochene werde nicht aus seinem Herzen fliehen können, wenn sie ihn so anlächele. Mit Grübchen auf der Wange werde sie nie in der Lage sein, sein Herz zu brechen.
In der letzten Strophe gehe es nun darum, wie sie sich entscheiden werde, darauf habe sich das ganze Gedicht nun zugespitzt. Habe er sich ihre Sympathie nur eingebildet - sei alles nur ein Traum? Dann möchte er nicht geweckt werden, sei es aber Realität, werde seine Liebe erwidert, so sei es kein Traum. So setze er sein Vertrauen ganz in sie, daß sie entweder gnädig sei und ihn weiterträumen lasse, wenn sie seine Liebe nicht erwidere, oder aber sie zeige ihm, daß sie seine Liebe erwidere, daß das kein Traum sei.
Doch wie solle sie das tun? Immerhin habe der sonst sicher mitten in der Realität stehende Physiker offenbar völlig abgehoben, wenn er nicht mehr wisse: 'Träum ich oder wach ich?' Hier könnten nur drastische Maßnahmen helfen. Erwidere sie seine Liebe nicht, dürfe sie nicht wie gefordert gnädig sein und ihn weiterträumen lassen, denn dann werde er nicht in sein wirkliches Leben zurückfinden, also bleibe ihr nichts anderes übrig, als sein Herz zu brechen und ihn so aus seinem Traum zu reißen.
Wenn sie ihn aber liebe - zu M. gewendet: Tue sie das? M. nickt entschieden - so müsse sie ihn überzeugen, daß er nicht träume, damit er wieder auf festem Boden stehe, denn sie wolle ihn ja so lieben, wie er sei, nicht wie er träume. Und wie das zu tun sei, darüber gebe das Gedicht Auskunft. Zunächst werde sie ihm ihre ganze Aufmerksamkeit schenken, und er werde die Blicke ihrer Augen auffangen.
N. macht eine Geste zu uns herüber, wir sollten das darstellen, so stehen wir auf und uns gegenüber, uns in die Augen blickend.
Dann habe sie ihm ihr Zauberlächeln, das nette mit den Grübchen zu schenken - auch das tut M. nun, ich lächele zurück - außerdem sei ja ihr Kuß Ziel seines Verlangens, also werde sie ihn umarmen und leidenschaftlich küssen, zum Beispiel zunächst einmal sein ganzes Gesicht mit ihren Küssen bedecken - auch das tun wir, wir umarmen uns, streichen mit den Händen über den Rücken des anderen, unsere Lippen pressen sich aufeinander und unsere Zungen beginnen ein kurzes, leidenschaftliches Spiel, M. küßt mich auf Wangen, Schläfen, Stirn und Nase, mit der Zungenspitze fährt sie um den Rand meines rechten Ohrs, dann warten wir die nächste Regieanweisung von N. ab - natürlich sei er als Physiker ein skeptischer Mensch, das sei also noch nicht alles, was sie tun müsse, immerhin könne das noch ein feuchter Traum sein, und sie müsse ihn davon überzeugen, daß sie viel besser sei als ein Traum je sein könne, dazu werde sie es mit ihm treiben, wild und leidenschaftlich und oft und in einer ihr ganz eigenen Weise, werde ihm viele Augenblicke schenken, ihre Höhepunkte der Lust, bis er nur noch schwer keuchend neben ihr liege und Schweißperlen seinen Körper bedeckten, und er so erschöpft und ausgepumpt sei, daß er keinen mehr hochkriege. Dann werde sie sich wieder an das Gedicht erinnern und feststellen, daß dort nicht gesagt sei, wo ihre Küsse ihn treffen sollen, doch jetzt werde sie wissen, es sei nicht nur sein Mund, seine Wangen, viel tiefer müsse sie jetzt küssen, und als Frau, die Saxophon und Flöte spielen könne, wisse sie, wie sie mit ihrem Mund umgehen müsse, sie werde sich so bemühen mit ihren Lippen, ihrer Zunge, bis er sich noch einmal aufrichte, dann werde sie ihn reiten, so daß sie ihm noch ein oder zwei ihrer Augenblicke schenke, bis auch er noch einmal komme, und es dann absolut nicht mehr gehe. Dann müsse er einsehen, so anstrengend könne auch kein feuchter Traum sein, so fordernd und geschickt keine Phantasie.
N. ermuntert uns mit Gesten, diesen Regieanweisungen zu folgen, während P. schon ziemlich rot im Gesicht geworden ist und seinen Blick in seine leere Tasse senkt. M. winkt amüsiert ab, letzteres würden wir später einmal alleine durchspielen, jetzt sollten wir uns mit ihrer plastischen Erzählung begnügen. N. tut ihre Enttäuschung kund, und M. schlägt vor, da wir inzwischen mit dem Frühstück fertig seien und sie mir eine kleine Jazz-Session versprochen habe, sollten sie und N. jetzt vorspielen, zumal so auch die Nachbarn mitbekämen, daß N. aus dem Urlaub zurück sei. N. ist einverstanden, das sei jetzt zum Ende des Urlaubs gerade das Richtige. Wir vier begeben uns in M.s Zimmer, N. und M. an die Instrumente, P. und ich auf zwei Stühle, die wir uns aus der Küche mitgebracht haben.
Sie beginnen zu spielen, und sie spielen wirklich gut, sie gehen herrlich aufeinander ein, verstehen sich ausgezeichnet, gemeinsames Spielen wechselt ab mit einigen Soli und dialogartigen Sequenzen, alles spontan und ohne größere Absprachen.
Anschließend wollen N. und P. noch in die Stadt bummeln gehen. Als sie weg sind, merke ich, daß M. etwas auf dem Herzen liegt, ich frage also, was los sei, und sie erwidert, sie habe es mir eigentlich schon gestern sagen wollen, doch irgendwie habe es dann nicht gepaßt, und jetzt passe es eigentlich auch nicht. Sie habe so viel zu tun, müsse unbedingt ihre Ruhe haben, um arbeiten zu können, wenn ich aber in der Nähe sei, könne sie sich garantiert nicht darauf konzentrieren, es falle ihr schwer, mich darum zu bitten, doch es gehe nicht anders, ob ich Sonntag Abend wiederkommen könne? Ich nicke, antworte ihr, das könne sie ruhig offen sagen, auch ich hätte gut zu tun mit der Vorbereitung eines Seminarvortrags, ich könne das gut verstehen, werde auch arbeiten und zwischendurch an sie denken. Wir umarmen uns, küssen uns noch einmal. Ich frage, wie spät Sonntag Abend, wir einigen uns auf 20 st, dann gehe ich, M. schaut mir noch die Treppe hinunter nach.
Ein Gedicht ist eine vollkommene sinnliche Rede.
Gotthold Ephraim Lessing
Dichten heißt verdichten.
Carl du Prel
Was ist schon ein Kuß? Ist es nicht der glühende Wunsch, einen Teil des Wesens, das man liebt, einzuatmen...
Giacomo Girolamo Casanova
Dein Wort ist süß, doch süßer ist der Kuß, den ich dir abgeküßt.
Heinrich Heine