Die Erklärungen von Annette und Sonja schienen so weit plausibel,
zumindest warum Annette Sonjas Bild geschickt hatte und sich scheute,
ihre Behinderung zu offenbaren. Doch dann hörte der Spaß auf.
Wie hatte sie Sonja schicken können, um Michael zu vernaschen?
Wie hatte sie ihn so täuschen können, wenn sie ihn wirklich mochte?
Hatte sich die Situation irgendwie verselbständigt? Dummes Zeug! Sie
hatten ein dummes Spiel mit ihm gespielt. Deswegen tat er mir sehr leid, auch
weil ich ihn sehr mochte. Solch ein böses Spiel hatte er nicht verdient.
Ja, nach unserem Gespräch im Park fühlte ich mich noch mehr zu
ihm hingezogen. Und muß sagen, daß ich mit Männern
bislang nicht wirklich viel anfangen konnte.
Ich hatte Sex zwar mit bislang Zweien ausprobiert, es hatte mich aber nicht bewegt. In der Oberstufe des Gymnasiums war ich neugierig und wollte es probieren, doch es war einfach nur absurd, was der Auserkorene tat. Das war Biologie, keine Zuneigung, Paarung ohne Lustgefühl. Den zweiten lernte ich im Studium kennen. Er schien mehr zu versprechen, war einfühlsam, studierte Lehramt wie ich und irgendwie schienen wir zusammenzupassen.
Als wir es im Bett versuchten, paßte rein gar nichts mehr. Er versuchte allerhand, doch das machte es nur noch schwerer. Vielleicht lag es an mir, sah immer mehr einen Freund in ihm. Es klappte auf jeden Fall gar nichts und das machte ihm zu schaffen, zumal er sich wirklich viel Mühe gab. Meiner Meinung nach lag es auch eher an mir als an seinem Geschick und ich hätte kein Problem damit gehabt, einfach so mit ihm zusammen zu sein, doch er kam damit nicht klar. So war es dann alsbald auch mit unserer Freundschaft vorbei. Daraufhin ließ ich die Finger von solchen Beziehungen, ließ niemanden an mich heran, weder körperlich, noch gefühlsmäßig.
Das half mir sogar als Lehrerin in der Schule. Was ich wollte, war Respekt und Harmonie von den Schülern, keine Angst und kein Terror - und das erreichte ich gut. Das zentrale Ziel ist, Kinder zu mitfühlenden, selbständig denkenden Menschen zu erziehen. Zwar machte ich auf den ersten Blick nicht den Eindruck, mit pubertierenden möchtegern Machos und infantilen Machtspielen fertig zu werden, doch Kinderliebe war tief in mir verankert, aber bei mir lernten auch die Aggressivsten, Respekt zu zeigen. Letztlich ist es ja auch eher lustig zu sehen, wie die Kleinen versuchen, ihren dicken Kopf durchzusetzen. Man muß nur dafür sorgen, ernst genommen zu werden, sonst ist alles verloren.
Diesen interessanten Kontrast zwischen meinem träumerischen Wesen und der tiefen Zuneigung zu Kindern einerseits und andererseits meinem Durchsetzungsvermögen in kritischen Situationen hatte ich selbst nie verstanden. Aber es funktionierte. Wenn es drauf ankam, änderte sich Haltung und Körpersprache drastisch, gleichsam einer Abwehrhaltung, gleichzeitig aber auch ein Werben um Kinderherzen und Respekt vor anderen Menschen.
Michaels Texte und Kunstwerke brachten den anderen Teil von mir wieder mehr zur Geltung, der im öffentlichen Leben sonst tief verborgen war. Eine Romanze zwischen ihm und Annette schien mir so passend zu sein, eine wundervolle Träumerei. Doch jetzt war alles schief gegangen. Ich mußte ihn trösten, ihm zureden. Vielleicht konnte er ihr doch noch verzeihen? Sie wären ein schönes Paar und ich könnte ihm nah sein als Freundin der beiden.
Wie das mit Sonja gehen sollte, war mir auch nicht klar, vielleicht konnten sie sich versöhnen und sich darauf einigen, daß alles wirklich nur ein Spiel gewesen sei. So wie sich Sonja verhielt und was sie sagte, schien sie diese Treffen aber doch mehr bewegt zu haben als geplant. Auch die beiden wären ein gutes Paar, allein ich glaubte nicht so recht an eine dauerhafte Beziehungswilligkeit bei Sonja. Annette schien mir schon besser zu passen. Ich wollte mein Möglichstes tun, also war ich zum verabredeten Termin pünktlich bei ihm, um auszuloten, wohin seine Neigung am ehesten ging und wie ich ihn versöhnen konnte.
Ich erklärte ihm, wie ich die Dinge sah. Er versicherte mir, er sei sicher nicht so wegen Annettes Behinderung schockiert gewesen. Es sei viel zu überrascht wegen der anderen Person gewesen, als daß er sich damit hätte wirklich beschäftigen können. Auch daß sie nichts darüber habe erzählen mögen, sei letztlich ihre Entscheidung gewesen - er hätte ja auch nicht gefragt. Einzig daß Sonja statt ihrer zu dem Treffen gekommen sei, das habe ihn aufs Tiefste erschüttert, das könne er nicht fassen, warum Annette sie vorgeschickt habe, um eine bloße Phantasie umzusetzen, wozu er sie bestimmt nicht gedrängt habe.
Ich begann wieder ihn zu trösten und seine deprimierte Verfassung zu bessern,
umarmte ihn gar fürsorglich, streichelte ihn sanft. Um ihn abzulenken, kam
ich auf seine Texte zu sprechen, auf seine Kunstwerke. So unterhielt ich mich mit
ihm bis tief in die Nacht. Wir plauderten, daß es ihm wirklich besser ging.
Ich erzählte auch von mir, dem Schulalltag und meinen Phantasiewelten,
die mich nach dem Feierabend beschäftigten.
Er konnte auch gut zuhören, das gefiel mir sehr. Ich fühlte mich bei
ihm sehr wohl, konnte Gedanken mit ihm teilen wie mit niemandem sonst.
Eigentlich wollte ich doch ihn trösten und aufbauen, doch irgendwann
quoll es aus mir heraus, all das, was unter meiner draußen so hart
gezeigten Maske steckte, meine Einsamkeit. Ich sprach Dinge aus, die ich nicht
einmal Sonja und Annette erzählt hatte. Er nahm alles auf und bot mir
in seinen Armen Geborgenheit. Es ging ihm und mir besser durch unser Gespräch.
Ich erschauerte, als er sanft meine Stirn küßte. Es fühlte sich richtig
an, ich vertraute mich ihm ganz an, umarmte ihn.
Wir trösteten uns gegenseitig und tauschten vorsichtig Zärtlichkeiten
aus. Oh wie gut mir das tat, fast ein Traum schien es zu sein, so sicher und geborgen,
alles war gut in seinen Armen.
Wir küßten uns und es war nicht absurd, es fühlte sich richtig,
köstlich an. Ich genoß es so sehr. Michael streichelte und liebkoste mich,
ganz vorsichtig, daß es mir nicht zu viel wurde und ich es geschehen ließ.
Es war gut und richtig. Weder konnte ich mich ihm entziehen, noch wollte ich es.
Es war ein Traum.
Spät in der Nacht wagte er es, meine Lippen zu küssen. Es gab für
mich nur noch diese Berührung. Wir lagen irgendwann und kuschelten.
Seine Hände um mich gelegt fühlte ich mich wohl. Ich sog mich einfach
ganz voll mit diesem Traum, dem Glück, der Geborgenheit, die ich bei ihm
spürte. Wie sanft er zu mir war, wie einfühlsam und vorsichtig.
Es war dunkel und es war mir nicht peinlich, mich an ihn zu schmiegen und seine
Zärtlichkeit zu genießen. Es ging dieses Mal alles wie von selbst. Es
gab keine befremdende Distanz mehr zwischen mir und unserem Tun, unseren
Zärtlichkeiten. Es paßte einfach alles zusammen. Ich gab mich ihm
hin und hielt ihn sanft, zog ihn auf mich, spürte sein Gewicht angenehm auf
mir, als Sicherheit, als Geborgenheit. Es ging von ganz allein und ich spürte,
wie er in mich eingedrungen war, wie wir vereint waren. Vielleicht wollte ich ihn
einen Augenblick lang zurückweisen, was ihn kurz zurückzucken ließ,
doch mein Körper zog ihn wieder an und wir waren wieder ganz vereint.
Fast bewegungslos genossen wir unsere Nähe. Es tat mir so gut, bei ihm zu
sein, mit ihm zusammen zu sein.
Es graute schon der Morgen, da wagte er mehr und bewegte sich heftiger in mir,
intensivierte unsere Gefühle. Wir hatten schon seit Stunden nichts mehr
gesprochen, waren ganz in unserer wunderbaren Zweisamkeit versunken.
Ich spürte ihn gern, uns beide zusammen, intensiv und heiß, harmonisch
und sanft. Ich hielt ihn und genoß ihn.
Eine genaue Beschreibung kann ich nicht geben, die angenehmen Gefühle steigerten sich schnell und es war fast eine Ohnmacht, ein Nichts, und doch eins mit ihm. Ich hielt mich an ihm fest und ließ mich ganz fallen. In seinen Armen war ich sicher und geborgen, der Sonnenaufgang begrüßte uns, wollte uns trennen, doch ich ließ es nicht zu und brauchte weiter seine Umarmung.
Später weckten mich seine Küsse auf Stirn und Wange aus der
Versunkenheit meiner Gefühle. Ich verstand erst jetzt richtig, was wir
getan hatten, was ich in seinen Armen erlebt hatte.
Ich erwachte aus einem Traum und mache mir Vorwürfe, daß das
niemals hätte geschehen dürfen. Wie hatte ich das tun können?
Und doch hatte es passieren müssen. Meine Gefühl waren gespalten,
plötzlich war nicht mehr alles eins wie in der Nacht. Einerseits hatte ich
ein schlechtes Gewissen deswegen, andererseits fühlte es sich richtig an,
was wir getan hatten. Es mußte richtig sein, bei dem, was ich mit Michael
erlebt hatte. Es ist einfach wunderschön, unbeschreiblich, harmonisch gewesen.
Ich bat ihn, die Augen zu schließen und zog mich rasch an. Ich riß mich
zusammen und erklärte, daß das mein Fehler gewesen sei, flehte ihn an,
niemandem etwas davon zu erzählen. Es durfte sich nicht wiederholen.
Es sei passiert, es sei gut, müsse aber unser Geheimnis bleiben. Unwillkürlich
hatte ich dabei meinen distanzierten, strengen Blick wiedergefunden, diese
Unnahbarkeit, die mich vor allem schützte, was mir hätte zu nahe kommen
können, was mich zu einer respektierten Lehrerin machte.
Er wagte nicht zu widersprechen. Und das war die Gelegenheit, wie ich meinte,
die Dinge ins Reine zu bringen. Ich redete auf ihn ein, sich mit Annette zu versöhnen,
ihr zu verzeihen. Er könne nicht werweißwas erwarten. Aber wenn sie doch
so gut in ihrem Denken und ihren Interessen zusammenpaßten, vielleicht ergebe
sich ja doch mehr daraus, wenn er sie nur etwas besser persönlich kennenlerne.
Annette und Sonja seien nicht bösartig. Sie hätten einen Fehler gemacht,
bestimmt hätten sie sich nicht auf seine Kosten lustig gemacht.
In der Tat war ich auf einen Schlag wach geworden, aus einem nächtlichen Traum erwacht, während er noch immer im Halbschlaf war. Es sagte mir widerstandslos alles zu. In aller Ruhe wollte er mit Annette reden. Ich war erleichtert. Ich hatte wieder alles voll im Griff, verabschiedete mich mit netten Worten von ihm und eilte davon.