Kaum ist sie weg, überfallen mich die Erinnerungen an die Tat wieder. Welch Wohltat waren da die letzten Stunden doch. Neben dem Bild des blutigen Messers taucht jetzt auch das Bild auf, wie ich nur aus der Hauseinfahrt heraus zuschaue, ich gehe zu Fuß am Maschsee entlang. Raten, wo das Messer im See liegt - oder auch nicht. Das Bild zweier möglicher Vergangenheiten festigt sich, ich sollte mich entscheiden, kann es jedoch nicht. Weiße Schwäne über der Stelle, wo ich das Messer vermute.
Den Fremdenhaß verstehe ich im Grunde nicht. Man muß seinen Nächsten wirklich nicht lieben (und schon gar nicht wie sich selbst, wenn man sich selbst nicht liebt, außerdem würde diese Forderung höchstens dazu führen, daß man nur die in seine Nähe läßt, die man lieben will). Es reicht in der Regel schon, wenn man die Anderen ihr Leben leben läßt.
Ein simples Modell für das Verhältnis
zu Fremden:
Da die heutige 'zivilisatorische' Phase der
Menschheit relativ kurz ist im Vergleich mit der
gesamten Entwicklung der Art, scheint es
nötig, von irgendwelchen Urhorden
auszugehen, da Verhaltensweisen durch diese
Phase sicher mehr geprägt sind, als durch
die heutige Zeit, wenn nicht versucht wird, das
eigene Leben, sein Regelsystem wenigstens
halbwegs seinem Verstand unterzuordnen, denn
die Gewichtung im eigenen Regelsystem und der
Verstand hängen doch sehr mit der
individuellen Lebenserfahrung zusammen.
Der Fremde als Bedrohung:
Kommt ein Fremder in das eigene Territorium,
kann eine Konkurrenzsituation entstehen,
insbesondere wenn kein großes
Nahrungsüberangebot besteht.
Mögliche Ursachen der Einwanderung:
Vermutlich eine Mangelsituation in seinem
bisherigen Gebiet oder Differenzen mit der
eigenen Horde. Außer Nahrungskonkurrenz
kann es natürlich auch ein sexuelle
Konkurrenz geben (der Trieb, möglichst
viele Nachkommen mit den eigenen Genen oder
verwandten Genen zu erzeugen, dagegen steht
die Möglichkeit, durch Mischung mit den
anderen Genen die Nachkommen zu optimieren.
Ersteres sollte stärker bei Fremden
gleichen Geschlechts zu Problemen führen,
insbesondere zwischen Männern, da diese
über ein erheblich größeres
Potential von möglichen Nachkommen
verfügen und eng damit
zusammenhängend: Zwar können ja
mehrere Frauen gleichzeitig von einem Mann
Kinder bekommen, nicht aber umgekehrt.
Letzteres sollte eher zur Integration des
andersgeschlechtlichen Fremden führen).
Insgesamt sollte derartiges Konkurrenzempfinden
Ursache für ein gewisses Mißtrauen
gegenüber Fremden sein.
Es gibt allerdings auch gegenläufige Tendenzen...
Der Fremde als Informationsträger:
Der Fremde kann Erfahrungen, Erfindungen,
Techniken sein Eigen nennen, die der heimischen
Horde unbekannt sind, das Überleben
erleichtern. Insbesondere ist auch die Kenntnis
von anderen Nahrungsresourcen möglich.
Der Fremde sucht eine Gruppe, weil das
Überleben allein kaum möglich ist.
Zusätzlich kann auch bei ihm das Interesse
bestehen, in der Fremde Neues zu lernen.
Die Gewichtung von Fremdenfreundlichkeit zu Fremdenhaß sollte demzufolge über einen großen Bereich variierbar sein. Bei intelligenten Wesen wie dem Menschen wird normalerweise die Gewichtung in seinem Regelsystem durch die Erfahrung gewonnen, allerdings ist es mit wachsender Kommunikationsfähigkeit und Komplexität der Gesellschaftsform und der Ausdrucksformen möglich, auch Erfahrungen zu übertragen, zu lernen, ohne selbst zu erleben. Hier setzt die Möglichkeit zur Manipulation an: Propaganda, Volksverhetzung im Falle des Fremdenhasses.
Die Stiefelmänner also auch ein Opfer einer Manipulation oder einer Massenhysterie? Zwar wird der Verstand des Menschen in der Regel überbewertet, doch keine noch so gestylte Führerfigur kann den Einsatz des eigenen Verstandes ersetzen, wenn es darum geht, Manipulationen möglichst aus dem Wege zu gehen. Wenn Intelligenz und Verstand vorhanden, besteht also auch Verantwortung für das eigene Verhalten, zumal wenn es in der gleichen Gesellschaft haufenweise Menschen gibt, die sehr wohl in der Lage sind, nicht auf die Manipulationsversuche hereinzufallen.
Das Messer an der Kehle des Anführers? Mein Haß gegen die Stiefelmänner? Abzulehnen ist Selbstjustiz, aber auch die unterlassene Hilfeleistung gegenüber dem Fremden. Der aufgetrennte Hals als Entschuldigung für Feigheit? Ich weigere mich, das zu glauben, gegen die Horde hätten wir auch zu zweit keine Chance gehabt, daß das Opfer schließlich entkommen ist, ist bloßer Zufall gewesen. Trotzdem: Die Tat als Kompensation meines Versagens? Einfach eine Verzweiflungstat, weil ich es leid bin? weil ich nicht verstehe, wie Verstand und kultureller Hintergrund derart konsequent abgeschaltet werden können? Die Fremdenhasser bleiben ein Rätsel und das Messer an der Kehle nicht das Zerschlagen eines gordischen Knotens!
Eine der dabei auftretenden Fragen:
Wie weit darf Toleranz gehen? Das Problem der
Toleranten: Darf Intoleranz toleriert werden?
Antworten habe ich keine, die Vergangenheit bleibt in der Schwebe: Versagen durch Unterlassung oder Versagen durch Kurzschlußhandlung? Kein Urteil von mir. Die Vergangenheit bleibt unbestimmt, ich hoffe, sie kann einfach verdrängt werden.
Die Sicht als Physiker:
Als wahr kann das Ergebnis eines Experiments
im Sinne der Physik gelten, was im Rahmen der
Meßgenauigkeit reproduzierbar sein
muß. Da das Experiment Erde aber (aus
praktischen wie wohl auch theoretischen
Gründen) nicht wiederholbar ist, sind auch
einzelne Episoden der Vergangenheit nicht
reproduzierbar, in dem Sinne kann einer Version
der Vergangenheit kein eindeutiger
Wahrheitswert zugeordnet werden, sie bleibt der
subjektiven Interpretation überlassen,
über die höchstens ein kollektiver
Konsens herrschen kann. In meinem Falle: Egal
was passiert ist, solange der kollektive Konsens
des Rechtsstaats nicht auf mich weist, ist es
völlig egal, welche Interpretation bevorzugt
wird, eine objektive Vergangenheit gibt es nicht.
Was als mein Versagen interpretiert werden kann: Ich habe mich nicht der Polizei gestellt, die Verantwortung für die Tat übernommen beziehungsweise mit ihrer Hilfe eine Interpretation dieser Nacht gesucht. Mit meiner Feigheit in dieser Frage werde ich leben müssen.
Was nicht irgendwie unter den Teppich gekehrt werden kann: Die Interpretation der Nacht mit K.. Das muß bis Freitag Abend geklärt sein.
Zuhause vor dem Computer, diesmal kein Spiel sondern numerische Lösung der eindimensionalen Schrödingergleichung. Dazu die Frage der Interpretation, beziehungsweise was in die Nacht mit K. hineininterpretiert werden soll. Zwei Interpretationen sollen möglichst zur Deckung gebracht werden.
Die drei wesentlichen Möglichkeiten:
1: Ein einmaliges Abenteuer. Dieses ist wohl zu
verwerfen, sonst hätte es nicht mehrere
Versuche für Verabredungen gegeben.
2: Eine Beziehung zur gegenseitigen
Triebbefriedigung, nur Sex also, der
Geschlechtsverkehr als Entspannungsübung,
keine weiteren wesentlichen Gemeinsamkeiten,
jedoch dauerhafter angelegt als 1, was mit dem
richtigen Partner eine beträchtliche
Zeitersparnis bedeuten kann, da ja ein als
geeignet empfundener Partner nur einmal
gefunden werden muß.
3: Eine feste Beziehung, Gefühle spielen
eine Rolle, Liebe? Um dafür den
geeigneten Partner zu finden, ist sicherlich nur
eine Nacht zu wenig Zeit, Sex stellt sicher nur
einen Aspekt der Beziehung dar. Weitere
gemeinsame Unternehmungen, Gespräche
müssen Klarheit bringen, soweit das
überhaupt möglich ist. Oder sollte es
möglich sein, Liebe einfach unreflektiert zu
erleben, sie nur zu leben, von jetzt auf gleich,
nur mit und durch den Partner? Ohne geistigen
Überbau? Einfach von einem Augenblick auf
den anderen die Gewißheit: Das ist es!?
Schwierigkeiten sind zu erwarten, wenn ein Partner bewußt oder nicht bewußt 3 vortäuscht, um 2 oder 1 zu erreichen. Personen, die an 3 interessiert sind, würden dies wahrscheinlich ausschließen wollen, aber die 'Relation' Liebe ist nicht notwendig symmetrisch (Wenn A B liebt, folgt B liebt auch A). Allerdings müssen in 2 und 3 die Interessen nicht zwangsläufig gleich sein, Klarheit in den jeweiligen Positionen ist natürlich wünschenswert, um die Wahrscheinlichkeit für eine spätere Enttäuschung, ein Scheitern der Beziehung zu reduzieren.
Kompliziert wird die Sache ebenfalls, wenn die Partner, zum Beispiel wegen ihres kulturellen Hintergrundes, andere Interessen vermuten, als tatsächlich vorhanden sind.
Wie aber die eigene korrekte Interpretation herausfinden?
Was ich befürchte:
Ich werde K. reden lassen, die einfach so wissen
wird, was sie will, ohne alles bis ins Kleinste
analysieren zu müssen, die auch gar nicht
auf den Gedanken käme, daß es da
etwas zu analysieren gibt, für die alles
klar ist, einfach in einem wunderbaren
Augenblick die Gewißheit über ihre
Gefühle vom Himmel gefallen ist. Ich werde
dasitzen, ihre Interpretation ermitteln und statt
eine eigene Meinung zu bilden, werde ich ihre
übernehmen, was nicht ungefährlich
ist, denn findet sie das heraus, wird sie verletzt
sein. Sie wird mein Spiel mit Meinungen in
diesem Falle nicht witzig finden. Statt eines
sanften Lächelns wird es für mich
unbequem werden. Eine eigene Meinung wird
nötig sein.
Natürlich interessiert sie mich. Drohend im Hintergrund steht aber noch die Vermutung, ich hätte mich nur mit ihr eingelassen, um mich vom Vortag abzulenken, immerhin ist das tatsächlich gelungen, auch im Museum. Ich lehne diese Interpretation jedoch strikt ab. Was hätte ich denn auch tun sollen? Sagen, im Moment hätte ich ganz andere Probleme, wir sollte die gemeinsame Nacht deshalb erst einmal um ein halbes oder ein Jahr verschieben und dann verschwinden? Das wäre das Ende gewesen, bevor überhaupt etwas angefangen hätte.
Das Problem: Ich kann ihr die Nacht von Freitag auf Samstag eigentlich nicht verschweigen, und ich kann sie da nicht mit hineinziehen, wenn mir etwas an ihr liegt.
Sage ich ihr nichts, wird in mir weiternagen, was nicht stimmt: K. als Ablenkung. Erzähle ich ihr davon, weiß ich nicht, was passieren wird, vielleicht wird in ihr der Verdacht aufkeimen, sie sei nur eine Ablenkung. Oder sie bricht jeden Kontakt zu mir sofort ab. Ich könnte mich ihr zwar anvertrauen, doch wäre das nicht viel eher nur eine Belastung? Wenn ich es ihr nicht jetzt sondern irgendwann später einmal erzähle, könnte sie denken, ich vertraue ihr nicht. Und wie sollte ich ihr beide Versionen gleichzeitig und glaubhaft überhaupt präsentieren? Auch in diesem Fall wird sie das Ausprobieren von Interpretationen der Vergangenheit nicht witzig finden, mir wahrscheinlich auch nicht mehr abnehmen, das ist verständlich.
Ich bin unschlüssig, wahrscheinlich werde ich tun, was ich meistens tue: Zuschauen bei dem, was passieren wird, obwohl ich längst weiß, daß nur Zuschauen nicht Neutralität, nicht Nichteinmischung bedeutet.
Ich liege dann noch wach im Bett. Tatsächlich lese ich noch eine Vorlesung nach, um sie nicht angelogen zu haben. Dann lösche ich das Licht. Um nicht an die Tat zu denken, reflektiere ich über den vergangenen Tag.
Was mir gelingt: Bei geschlossenen Augen reproduziere ich ihr Gesicht sehr detailliert aus dem Gedächtnis, ihr Lachen, ihre Worte, die Grübchen, wenn sie ganz sanft lächelt, wenn mir eine besonders interessante Interpretation eines Bildes gelungen ist. Die krause Stirn über funkelnden Augen, wenn ich dann doch übertrieben habe, wenn sie sich karikiert fühlt. Ihr Schmunzeln, wenn ich mich bemühe, die Übertreibung wieder zurückzunehmen. Liebe? Nur ein Wort. Ich bin es nicht gewohnt, Gefühle zu artikulieren. Die Verbalisierung des eigenen Empfindens gehörte nicht zu dem, was bisher ernsthaft nötig war. Die Versuche zu erleben, beziehungsweise Erleben im Sinne von K.s Vorstellung zu simulieren war anstrengend, einmal in Fahrt gekommen, war es teilweise kaum noch möglich, Simulation und Realität zu trennen, eine interessante Erfahrung. Wenn es K. wirklich interessiert, wird es sicherlich aber viel Mühe kosten, bei mir das Innerste hervorzukehren und nicht nur Simulationen hervorzurufen, falsche Fährten zu verfolgen. Immerhin, sie ist gewarnt und daher auch ihr Problem, wenn sie sich darauf einläßt. Vielleicht hat sie ja aber auch längst ein Bild von mir, intuitiv durch Erleben viel klarer und besser, als ich es von mir selbst habe.
Schließlich schlafe ich ein, ohne in dieser Nacht noch stark durch die Tat belastet zu sein.