Alternative Buchvariante (EPUB) mit Graphik
Geschrieben: 2002-03/06
Bis zum Wochenende ist alles ruhig und Markus hört nichts mehr von ihr. Erst am frühen Sonntag Abend, kurz nachdem er seine Wohnung betreten hat, klingelt es. Als er öffnet, schaut er in Annkathrins verlegenes, verweintes Gesicht, sie aber schaut zu Boden, ob er etwas Zeit habe? Markus bittet sie herein. Er bietet ihr etwas zu trinken an, sie setzen sich aufs Sofa. Sie schweigen eine ganze Weile, die Stille wird fast drückend. Aufmunternd lächelt er sie an, sie fährt nervös mit den Fingern über den Tisch.
Dann bricht es aus ihr hervor, sie beginnt zu weinen, hält die Hände vors Gesicht. Markus ist erst etwas ratlos, streicht dann kurzentschlossen und ganz zart und aufmunternd mit zwei Fingern über ihren Arm.
Sie beruhigt sich wieder etwas, dann sprudelt es aus ihr hervor: Sie werde von ihren Eltern unter Druck gesetzt, sich mit einem Mann zu verloben, mit dem sie überhaupt nichts anfangen könne. Heute sei sie wieder wie jede Woche zum Gottesdienst in der Heimatgemeinde gewesen, da habe gar der Priester und jener Mann heftig auf sie eingeredet, aber sie könne einfach nicht, nicht einmal mehr in der Kirche habe sie Ruhe gefunden.
Markus wundert sich, daß es so etwas heutzutage noch gebe. Annkathrin erklärt sie sei sehr streng erzogen worden, in einer konservativen Glaubensgemeinschaft. Nur ungern hätten ihre Eltern sie zum Musikstudium in die Stadt ziehen lassen. Unterstützt hätten sie sie dabei eigentlich gar nicht - immerhin schienen sie es nunmehr akzeptiert zu haben, aber jetzt das mit diesen absurden Heiratsplänen. Sie habe sich die Jahre immer mit Jobs, zum Beispiel als Kassiererin im Supermarkt über Wasser gehalten. Wenn sie Zuhause war, schien das alles immerhin kein Thema mehr zu sein,bis auf ihr Studium habe sie sich eigentlich immer gut mit ihren Eltern vertragen und der Glaube und die Gemeinde seien ihr ein verläßliches Zuhause gewesen.
Hier in der Stadt sei sie immer eine Einzelgängerin geblieben. Ein paar Bekannte habe sie schon, mit denen sie ein paar musikalische Projekte verfolge. Aber ansonsten habe sie sich fast ganz auf das Studieren und die Musik konzentriert. Sonntags sei sie immer in ihrer Gemeinde und bei ihren Eltern gewesen, um Kraft zu gewinnen und ihr seelisches Gleichgewicht zu behalten. Sie habe sich immer darauf freuen können, nach hause zu kommen und ihren Glauben zu leben.
Aber nun sei alles bedrohlich. Nirgendwo stehe, daß die Eltern oder die Gemeinde ihren Mann aussuchen müßten. Und dieser erscheine ihr einfach ungeeignet. Sein Verständnis des Glaubens schien auch ganz anders ausgelegt zu sein als das ihre. Allerdings habe er Einfluß in der Gemeinde. Auch sonst hätten sie nichts gemeinsam. Ihr Interesse an der Musik teile er gar nicht, ihre Meinung respektiere er nicht. Wenn sie sich nur etwas für ihn begeistern könne, wäre sie vielleicht sogar einverstanden, aber er bewege ihr Herz überhaupt nicht, seine Art sei ihr völlig fremd. Und nun redeten alle auf sie ein. Es habe dieses Wochenende schon wieder heftigen Streit mit ihren Eltern gegeben. Der Priester habe versucht, sie zu beeinflussen. Nicht einmal im Gebet habe sie mehr Ruhe gefunden. Sie sei schon ganz fertig mit den Nerven gewesen, da habe sie auch noch jener aufgelauert, Heinrich heiße er, der sie heiraten will. Er war schon mal verheiratet, seine Frau war bei einem Autounfall gestorben, den er leicht verletzt überlebt hatte. Das ganze war nach einer Feier passiert, die sie streitend verlassen hatten. Heinrich redete also auf sie ein, versprach ihr allerhand und machte wohl auch Anspielungen auf die Freuden des Ehelebens. Heinrich berührte sie an der Schulter, lachte frech, drängte sie an die Wand zurück. Sie schubste ihn weg, wies ihn von sich, er solle sie in Ruhe lassen. Er respektierte dies jedoch nicht, drängte sie wieder in eine Ecke und redete auf sie ein. Sie hatte plötzlich panische Angst vor ihm und den Zweideutigkeiten in seinen Worten. Er berührte sie an der Brust und lachte, es werde ihr schon mit ihm Spaß machen, wenn er ihr erst mal alles beigebracht habe, sie werde sich schon fügen, das sei das Beste für sie. Sie wußte nicht mehr, was sie tun sollte, war ganz erstarrt. Er drängte sich an sie, zwischen ihre Beine. Sie faßte sich wieder in ihrer größten Not, zog blitzschnell das Knie an, er schrie auf und sank zu Boden, sie entkam und fuhr hierher zurück.
Markus meint, sie solle Heinrich anzeigen. Sie schüttelt den Kopf, das würde nichts bringen, es würde nur noch mehr Ärger in die Gemeinde bringen, auch für ihre Eltern und für sie, denn niemand werde ihr glauben.
Sie hatte seine Hand gegriffen und gegen ihre tränenüberströmte Wange gedrückt. Sie könne einfach nichts an Heinrich finden, könne ihn nicht lieben. Wenn sie ihren Eltern nicht folge, wenn sie sich nicht in die Gemeinde einfüge, mache sie allen Probleme, störe die Harmonie. Aber sie könne sich einfach nicht überwinden - insbesondere nach dem letzten Vorfall.
Markus schüttelt den Kopf, es sei einfach Unfug, soetwas zu denken. Es sei ganz allein ihre Entscheidung, mit wem sie zusammen sein wolle, da habe niemand für sie zu entscheiden. Sie sei erwachsen und selbständig. Sie müsse langsam selbst wissen, was gut für sie sei.
Sie nickt lächelnd. Einerseits habe er da recht. Andererseits sei das aber nicht so einfach zu erledigen und beiseite zu schieben. Das Einfügen in die Gemeinschaft sei eine wichtige Sache, ein abweichendes Verhalten sei egoistisch.
Markus erwidert, es sei nur egoistisch von Heinrich, alle zu manipulieren, um sie über die anderen unter seinen Einfluß zu bringen. Ihre Eltern stellten Heinrichs Interessen über das Wohlbefinden ihrer Tochter. Dagegen müsse sie sich wehren, sonst werde sie sich ins Unglück stürzen.
Annkathrin nickt nachdenklich, sinkt an seine Schulter. Ja, es seien nicht die Grundwerte ihrer Religion, die sie in eine solche Ehe zwänge - es sei wohl eher Tradition und Unterordnung unter die Gemeinschaft, deshalb sei das alles so schwer.
Sie sitzen eine Weile einfach nur zusammen und Annkathrin scheint es etwas besser zu gehen. Schließlich meint sie, sie müsse weiter nachdenken, sei aber auf jeden Fall entschlossen, nicht auf Heinrich einzugehen, denn sein Verhalten erscheine ihr vollkommen indiskutabel und absurd. Sie dankt Markus, es habe ihr gut getan, sich einmal ausgesprochen zu haben. Sie verabschieden sich.