Nur vormittags Vorlesungen, allerdings ab 9 c.t.. Sie sind erträglich, doch das Mittagessen mit K. rückt unaufhaltsam näher. Eine Interpretation der Nacht von Samstag auf Sonntag steht immer noch aus, vielmehr sind zwei Interpretationen zur Deckung zu bringen, möglichst ohne daß jemand dadurch verletzt wird. Während für mich K.s Interpretation zumindest grob vorgezeichnet scheint, denn wenn es für sie ohne Bedeutung gewesen wäre, drängte sie wohl nicht so zu einem Treffen, um darüber zu reden, bin ich mir über meine immer noch nicht klar, eher, weil ich mich in dieser Woche mehr mit der vorherigen Nacht beschäftigen muß, als daß ich prinzipiell unentschlossen wäre, ein klärendes Gespräch zu führen. Vielmehr sehe ich mich nicht in der Lage, mich jetzt darauf einzulassen. Andererseits ist klar, daß K. das Gespräch jetzt will. Was wenn ich sie einfach versetzte? Eine Entschuldigung erfinde? Das wäre gemein, das geht nicht, ich muß hin, werde alles auf mich zukommen lassen. Die Bedeutung, die K. der Nacht einräumt, ist zu klären, kann dann als Maßstab für weiteres Verhalten dienen. Nur ungern möchte ich sie enttäuschen. Schließlich ist es nicht ihre Sache, die Folgen der Tat zu tragen, von der sie nicht einmal weiß.
Ich treffe sie also in der Halle der Mensa, es stellt sich heraus, daß ich Eintopf, sie das Wahlmenü essen will. Eine Galgenfrist für mich, zumal ausgerechnet an diesem Tag eine Schlange für den Eintopf vorhanden ist, nicht aber für das Wahlmenü. Wir verabreden uns für die obere Etage der Mensa. Als ich, das Tablett in der Hand gerade die Treppe hinaufsteige, sehe ich einige Meter vor mir F.. Dieser steuert direkt auf K.s Tisch zu, setzt sich ihr gegenüber. Das ist ungünstig für K.s Vorhaben, trotzdem folge ich, setze mich auch an den Tisch, nicke F. zu. Er beachtet mich jedoch nicht, sagt zu K., er habe sie seit der Mensafete nicht mehr gesehen, was los sei. Sie antwortet, falls es ihm noch immer nicht aufgefallen sei: es sei aus zwischen ihnen, das sei es doch eigentlich schon seit Monaten, Streit, Treffen nur noch aus Gewohnheit, Gerüchte von Treffen mit anderen Frauen, schließlich C. auf der Mensafete, sein Verhalten dazu, das habe gereicht. Sie sei fertig mit ihm, er könne sich doch jetzt an C. halten, sinnlos eine Versöhnung anzustreben. F. meint, wenn sie wolle, werde er C. nie wieder sehen, das sei doch gar nicht Ernst mit ihr, gut, an dem Abend habe er sich nicht zurückhalten können, er habe sich auch nur jene Nacht mit ihr eingelassen, weil K. einfach abgehauen sei, überhaupt sei er es doch eigentlich, der immer unter ihren Launen zu leiden habe, sie gehe doch fast nie auf ihn ein, was solle er da machen. K. blitzt ihn mit ihren Augen an, kann sich kaum noch beherrschen, das sei ja wohl der Gipfel, er sei doch von Anfang an nur hinter ihr her gewesen, weil er scharf darauf gewesen sei, ihren Körper zu besitzen, von Gefühlen keine Spur, nur gerade so viel Aufwand, damit es mit ihr weitergehe. Erst in letzter Zeit sei ihr das bewußt geworden. Eigentlich sei es doch von Anfang an eine Beziehung ohne Zukunft gewesen, sie wisse nicht, warum sie sich überhaupt auf ihn eingelassen habe. F. meint, was sie ihm da unterstelle, sei ja wohl das Letzte, bleibt dabei aber erstaunlich ruhig. K. erwidert: Gut, anfangs habe er sich ja vielleicht ernsthaft bemüht, das sei doch aber schon bald völlig vorbei gewesen. Das sei nun unwiderruflich das Ende gewesen. Zuletzt sei sein Verhalten eben doch zu auffällig geworden. K., mit dem Essen und mit F. fertig, steht auf und geht. F. ißt wortlos weiter, ohne ihr nachzuschauen, es scheint ihm letztlich nicht sehr viel zu bedeuten. Auch ich bin mit dem Essen fertig und gehe ihr kurz darauf nach.
Am Ausgang der Mensa treffen wir uns wieder, wo sie offenbar auf mich gewartet hat. Ich meine, sie sei wohl jetzt nicht in der Stimmung für das geplante Gespräch. Sie nickt, der Vorfall mit F. tue ihr leid, doch sie hätte schon lange mit ihm Schluß machen sollen. Sie meint, wir müßten das Gespräch verschieben, sie müsse sich erst wieder beruhigen, ob wir inzwischen etwas anderes unternehmen wollen, sie müsse sich jetzt so oder so etwas ablenken. Ich bin einverstanden, auch ich muß mich ablenken, daß Thema 'über Beziehungen reden' scheint eine Weile für sie Tabu zu sein, was mir sehr entgegen kommt, unverbindliche Ablenkung also. Ich schlage das Sprengelmuseum vor, sie stimmt zu. Ich fahre mit der Straßenbahn, sie mit dem Rad. Vor dem Museum treffen wir uns wieder.
Betrachtungen zur 'modernen' Kunst.
Erst in Gesellschaft ist es nötig, sich eine
Meinung oder Interpretation zuzulegen. Wenn sie
nicht gefragt ist, erübrigt sich eine
Meinung. Was ich nicht mag: Kunstobjekte
ernsthaft hochzuloben oder schlecht zu machen,
nur der Konversation wegen, um sich selbst zu
profilieren, um anderen damit zu gefallen. Ein
Objekt kann zum Kunstwerk erklärt werden,
was zählt ist, was vom Künstler oder
Betrachter dabei eingebracht werde. Der Plan,
der gedankliche Hintergrund des Werkes. Im
Extremfall sei das eigentliche Objekt dann gar
nicht mehr nötig, sondern nur noch das
Konzept des Werkes. Die Umsetzung des
Konzeptes zum Objekt zu beurteilen, sei nur bei
Kenntnis des Konzeptes möglich.
Ich probiere gerne Meinungen aus, nicht nur zu Kunstwerken. Überrachend, was dabei herauskommt, wenn ich formuliere, was ich vorher nur teilweise vorgedacht und für gut befunden habe, ich versuche ihr deutlich zu machen, daß ich Meinungen, Interpretationen ausprobiere, sie teste, ob sie von mir gedacht und ausgesprochen für mich überzeugend sind. Sie werden oft wieder verworfen. Vor Vielem steht ein entschiedenes Vielleicht. Eine Schwäche von mir, sie lacht, eine interessante Einstellung gegenüber Meinungen, sie werde aufpassen müssen, immer wenn ich eine äußere, ob ich das nicht nur ausprobiere.
Ihre Betrachtung der Kunst ist offenbar anders, ein Erleben des Kunstwerkes, entweder es spricht sie an oder nicht, kein Gedankengebäude könnte ein Werk retten, welches sie nicht anspricht. Sie gibt zu, ein sehr willkürliches Verfahren, Kunst zu betrachten, allerdings sei mein Ansatz ja nicht weniger willkürlich. Daß es einfach möglich sei, ein Objekt zum Kunstwerk zu ernennen, wie ich die Sache sehe, die am besten zu mir passende Meinung, sei doch wohl ein sehr theoretischer Ansatz. Sie halte Kunst inzwischen für ein knallhartes Geschäft, daher ihr gutes Recht, nur das für Kunst zu halten, was ihr einfach nur gefalle. Ganz dasselbe sei es doch mit dem Musikcirkus, auch zur Geldmacherei verkommen. Schließlich höre und kaufe sie da auch nur, was ihr gefalle, egal was der Künstler dazu zu sagen habe, der heute ohnehin nur noch seinen Kram verkaufen möchte, daher marktorientiert produziere. Ein Konzept, das man erst studieren müsse, um ein Kunstwerk als solches zu erkennen, sei ihr zuviel. Entweder es spreche sie unmittelbar an oder sie wende sich dem nächsten zu; das Schöne und das Wahre ...
Ich probiere auch ihre Meinung aus, zunächst nicht sehr überzeugend, wie sie findet, allerdings bin ich es auch nicht gewohnt, Empfindungen, Gefühle rein subjektiv und unreflektiert - ohne gedanklichen Überbau - zu äußern. Dem haftet immer ein Hauch von Simulation an. Trotzdem amüsiert sie das Spiel: 'Was sagt uns dieses Bild?', beschreiben, was man sieht, was man empfindet, wenn man etwas empfindet, Expression des Erlebens, nicht die Artikulation von Konzepten der Gedankenwelt. Ich werde auch mit der Zeit besser, eine Frage der Gewohnheit, sich in eine Meinung hineinzuversetzen. Wenn klar ist, daß ich nur ein Verhalten simuliere, ist das kein Problem.
Das Leben als Schauspiel: Für jede Situation gibt es so die Möglichkeit der Auflösung, indem man das bisherige zum Spiel im Spiel erklärt, eine unauflösbare Schichtstruktur entsteht, in der man nur verletzen kann, wenn jemand das Gespielte für reale Meinung hält und sich damit außerhalb des Spiels stellt, was er nicht sollte, wenn er weiter mitspielen möchte.
Natürlich, sie ist besser im Ausleben ihrer Meinung als ich in der Simulation derselben, aber es ist ja auch ihre eigene. Was dabei ein Erlebnis ist: Die Objekte beginnen zu leben, wenn sie sie ansieht, sie erlebt, über sie spricht. Es sind nicht mehr nur Gegenstände, die jemand zum Kunstwerk erklärt hat. Mit ihren Augen betrachtet, durch ihre Worte beschrieben, bekommen sie einen Bezug zum Betrachter, zu ihr. Ich bewundere das.
Allerdings widerspricht das nicht meiner Auffassung. Mit ihrer Betrachtung wird sie zum Künstler, in einem Augenblick kann sie Gegenstände in Kunstwerke verwandeln, weil sie sie als solche betrachtet, weil sie ihrem Blick standhalten. Insgesamt ist es ein riesiger Spaß. Fühlt man sich sonst immer ein bißchen wie in einer Prüfung, unter Druck gesetzt, ob man auch das Richtige aus dem Bild herauszieht, was der Künstler (vielleicht) hineingesteckt hat, ist es jetzt eher ein bewußtes Hineininterpretieren, eine Projektion.
Ich glaube, ich lerne viel über die Art, wie sie die Dinge sieht, wenn wir lachend vor einem Bild stehen und sie erklärt, was sie sieht. Wenn umgekehrt ich erkläre, schimmert immer durch, daß ich nur ausprobiere, nur ein Spiel spiele. ich glaube nicht, daß sie außer dem dadurch viel über mich erfahren hat.
Es ist ein gut verbrachter Nachmittag, es ist nur das Jetzt, das Erlebnis, was zählt, nicht die Vergangenheit, deren Interpretation einvernehmlich verschoben ist und so für Stunden vergessen werden darf. Als aber das Museum schließt, stellt sie die Frage, was wir unternehmen könnten. Ich spüre, das Gespräch, schon für Mittag geplant, steht wieder drohend im Hintergrund, noch in einer harmlosen Formulierung verborgen. Ich gebe vor, noch unbedingt eine Vorlesung für den nächsten Tag nacharbeiten zu wollen. Wir verabschieden uns jedoch nicht ohne Verabredung. Ich gebe vor, Donnerstag wenig Zeit zu haben (tatsächlich habe ich immerhin drei Vorlesungen, eine Übung), sie hat die Idee, für Freitag Abend Essen zu machen, sie kann mich für ein Rezept begeistern, ich bin einverstanden. Zwei Tage Zeit zum Nachdenken. Ich kann sie nicht länger hinhalten, das ist klar.