Alternative Buchvariante (EPUB) mit Graphik
Geschrieben: 2015-07-15/08-03
Gundula fand sich wieder in einem trüben Teich voller Algen und Entengrütze und anderen ekligem Schleim und Gewürm. Sie war ganz verwirrt über die Geschehnisse und ihren nun so fremden Körper, die Perspektive und die neue Umgebung, die einfach widerlich war. Sie versteckte sich zwischen Schilf und Rohrkolben, irgendwo in der Nähe von einem großen Drachenwurz. Immerhin, von hier aus konnte sie sich sogar am Anblick einiger Sumpfschwertlilien erfreuen.
Ihr eigentlicher Körper - wie stand sie dazu?
Wie hatte sie ihn empfunden?
Natürlich hatte er sich über die Jahre verändert, an einigen Stellen in auffälliger Weise,
was jetzt etwa beim Sport oder Kampf nicht unbedingt vorteilhaft sein mußte.
Er zog Blicke auf sich, was ihr peinlich war, konnten die Leute,
besonders die Männer sich nicht um ihre eigenen Angelegenheiten kümmern?
Oder taten sie das, wenn sie so auf sie schauten?
Und nun?
War sie wirklich äußerlich zu dem geworden, was sie innerlich war?
Einer Kröte an sich konnte man ihr Krötensein kaum vorhalten, aber sie verstand, wie es gemeint war,
man hielt ihr Verhalten anderen Menschen gegenüber für abstoßend und Regina hatte dafür einen Körper gewählt,
der auf die meisten Menschen ebenfalls abstoßend wirkte.
Fühlte sie sich selbst als abstoßende Kröte?
Es war ihr immer recht gewesen, wenn sie keine Aufmerksamkeit oder sonst etwas erregte, hatte immer lieber in ihrer Ecke gehockt.
Aber wenn sie sprach, bemühte sie sich schon, nicht nur blödes Gequake von sich zu geben,
jedenfalls weniger blöd als das, was die meisten anderen absonderten.
Empfand man sie deshalb als abstoßend, weil sie sich nicht nur für schlauer und gebildeter hielt als viele andere,
sondern es gelegentlich wohl auch wirklich war?
Was ist falsch daran, schlauer, geschickter, gebildeter zu sein?
In vielen Fällen mußte das ohnehin nicht viel heißen, von daher bildete sie sich eigentlich gar nicht so viel darauf ein.
Das war eben sie selbst.
Und war es nicht richtig, zu sich selbst zu stehen, statt krampfhaft zu versuchen,
so zu sein wie die anderen oder wie die anderen einen haben wollten oder man meinte, was die anderen von einem wollen könnten?
Und würde das nicht ganz schnell schiefgehen und ins Unglück führen, wenn man auch noch falsch interpretierte,
was die anderen vielleicht wollten, vielleicht aber auch nicht?
Wußten die anderen eigentlich, was sie wollten?
Und wäre das überhaupt erstrebenswert für sie selbst?
Und war es nicht ihr Recht, frei über sich zu entscheiden und Kandidaten abzuweisen,
mit denen sie nichts zu tun haben wollte?
War es nicht deren Angelegenheit, wenn diese sich dabei
blamierten? Wenn sie so eine abstoßende Kröte war, was kümmerten sich dann die Kerle um sie?
Wenn sie sie nicht verstanden, was interessierte sie dann an ihr?
Also saß sie nun irgendwie mitten in der Natur.
Hatte sie nicht immer ungestört im Grünen sein wollen, eins sein mit dieser Welt?
Nun, das war offenbar nun ihre Chance, ihre Gelegenheit, hier neue Einblicke zu gewinnen.
Es war also nicht alles schlecht und unerfreulich.
Gut, der Teich hätte schon etwas gepflegter sein dürfen, in ihrem Garten wären die Bediensteten mit
so etwas nicht durchgekommen.
Aber sie hatte auch Angst, welches Getier gab es hier, welches ihr gefährlich werden konnte?
Und sah man am Himmel nicht wirklich Krähen, einen Storch oder einen Reiher, die Ausschau hielten?
Quakte da sonst noch wer im Teich? Gab es etwa größere Fische?
Sie hatte Angst.
Sie mußte hier weg.
Mit einem Male schien es gar nicht mehr so erstrebenswert zu sein, eins mit der Natur zu sein, so unmittelbar in der Natur zu sein.
In ihrem schönen Garten - gut, der war angelegt, geplant und eine Zier.
Aber dies hier war wild und vermutlich gar nicht so harmonisch oder idyllisch.
Ihr natürlicher Lebensraum war dann doch eher ihr Elfenbeinturm oder der gepflegte Garten, der Königshof.
Dies hier war eine ganz andere, ihr fremde Welt!
Natürlich war es eine romantisierende, idealisierende Vorstellung, daß alles so schön war in der freien Natur.
Dort fing gerade eine große Libelle eine kleinere, setzte sich auf ein Schilfblatt und begann zu fressen.
Das hier war ein Überlebenskampf.
Als Kröte hätte sie wohl nach der großen Libelle schnappen können oder sollen, welche die kleine fraß, um sich in diesen
Reigen, diesen Kampf auf Leben und Tod einzureihen. Einstweilen beobachtete sie lieber.
Jenseits der Sumpfschwertlilien schien eine verwilderte Blumenwiese zu sein.
Doch das durfte sie wohl nicht riskieren, zu gefährlich, also doch wohl besser ausharren und sich versteckt halten.
Aber worauf warten?
Die Situation war doch aussichtslos.
Wer sollte hier schon vorbeikommen und ihr helfen?
Konnte sie jemanden ansprechen, falls jemand vorbeikam?
Und wer würde ernstnehmen, was eine Kröte so von sich gab?
Priorität hatte erst einmal überleben.
Immerhin war Sommer und es war ausreichend warm.
Sie verbarg sich so gut sie konnte beim großen Drachenwurz und beobachtete, was so um sie herum geschah.
Sie war nicht dumm und wußte einiges über Pflanzen und Tiere, sowohl aus den Büchern als auch aus der
Praxis im Garten, wenn sie auch nie selbst Hand angelegt hatte, um zu gärtnern, so hatte sie doch ein
genaues Auge darauf gehabt, was die Bediensteten taten, um Fehler zu vermeiden und kompetent nachfragen zu können.
Sie mußte hier irgendwie nutzen, was sie konnte.
Doch was konnte sie wirklich, was wußte sie, was hier für das Überleben von Belang sein könnte?
Plötzlich kam sie sich doch ganz schön dumm und ignorant vor.
Und war das vielleicht die eigentliche Lehre aus dieser Angelegenheit?
In die falsche Situation gestoßen, ist da nicht ein jeder ignorant und stellt sich dümmer an, als er ist?
Man mußte sich also nicht viel darauf einbilden, was man bereits wußte, gab es doch immer viel mehr,
von dem man rein gar keine Ahnung hatte und wo man große Mühe haben würde zu bestehen.
Gab es hier überhaupt eine Lehre? Regina wollte ihr bestimmt nicht nur eine lehrreiche Lektion erteilen.
Nein, das war keine Schulstunde. Sie war auf sich selbst gestellt und wenn sie etwas lernte, mußte sie
es sich schon selber beibringen, daran war sie gewöhnt, aber nicht auf diese Weise, mitten in einem ganz
realen, praktischen Sumpf steckend.
Sie grübelte.
Es war Sommer, immerhin war die Paarungszeit der Kröten vorbei, auch von daher hatte sie zumindest hier wohl nicht mit lästigen Kandidaten von dieser Spezies zu rechnen. Auch hatte sie bislang noch kein 'ooooäääck!' gehört, welches sie auf Konkurrenz im Teich hingewiesen hätte, vielleicht hatte sie Glück und hier hatte bislang keine andere Kröte ihr Revier abgesteckt?
Mußte sie nicht irgendwann essen und trinken?
Davor graute ihr, es war so schon alles glitschig, widerlich und etwas stinkig hier. Wie konnte sie da trinken?
Oder gar Insekten oder anderes Kleingetier vertilgen?
Ihr graute bei dem Gedanken, doch sie mußte überleben.
Sie sah irgendwelche Fliegen in der Nähe, Mücken, Larven, Libellen. Für eine Kröte gäbe es genug zu fressen.
Es wäre gelegentlich nur ein Sprung aus dem Verborgenen notwendig, und sie spürte schon die Muskeln in den Beinen zucken,
konnte sich aber gerade noch zurückhalten und die fette Fleischfliege auf einem benachbarten Blatt war gerade
noch einmal verschont. Und auch die gefräßige Libelle widmete sich weiter ungestört ihrem Mahl.
Gab es nicht auch Insekten, die ihre Eier in Kröten oder anderes Getier legten,
welches dann von den Larven von innen her aufgefressen wurde?
Sie schauderte bei dem Gedanken.
Es dämmerte und dann wurde es Nacht. Immerhin gab der Mond etwas fahles Licht über den Teich, so konnte man wenigstens etwas sehen und die Geräusche rund herum erschienen nicht mehr ganz so unheimlich. Es kamen wohl Mäuse vorbei und auch ein Fuchs vielleicht, einiges andere Getier der Nacht, doch von der Krötenprinzessin nahm zum Glück niemand Notiz, sie hingegen schon und wagte nicht eine Minute einzunicken.
Irgendwann graute endlich der Morgen und die einen Tiere beendeten ihre Nachtschicht, andere begannen mit der Frühschicht und stöberten herum. Durch die Kälte der Nacht wären einige Insekten jetzt eine leichte Beute gewesen, auch für sie selbst, sie hatte ein paar in der Umgebung gesehen, doch in ihr kämpfte immer noch die Gewohnheit im Kopf mit dem Hunger und der Natur des Krötentiers. Einstweilen gewannen noch die Bedenken im Kopf, doch die Argumente des Magens wogen immer schwerer.
Sie wagte sich noch immer nicht aus ihren Versteck. War da nicht ein verdächtiger Schatten, ein Rascheln, eine Bewegung, ein Feind? Sie war sich nicht ganz sicher, gut, manches Mal war es wohl nur ein Windhauch, dann aber wieder ein Tier - und sie wußte längst nicht von allen, wie sie zu Kröten standen. Also wartete sie weiter.
Gegen Mittag dann streifte ein größerer Schatten über den Teich - und wirklich, da landete ein Reiher auf der Wiese, stakste vorsichtig zum Teich, nickte hier und da mit dem Kopf. Gundula stockte der Atem, das war definitiv ein Feind, der es auf sie abgesehen hatte. Der Reiher blieb ganz ruhig stehen und beobachtete seine Umgebung, beobachtete, beobachtete und stieß dann zu, durch den Algenschleim hinein ins trübe Wasser und hatte wohl ein Fischlein erwischt, vielleicht auch eine Libellenlarve. Das konnte nur die Vormahlzeit sein, bei der Größe des Tieres war es sogleich auf der Suche nach einem Hauptgang. Und eine Kröte wäre da schon ein größerer Fang!
Gundula drückte sich in den Schleim, um unentdeckt zu sein, doch durfte sie mit einem erfahrenen, aufmerksamen Gegner rechnen. Vorsichtig sah sie sich schon einmal nach einem Fluchtweg um. Einstweilen stocherte der Reiher wohl erst einmal auf Verdacht, um etwas aufzustöbern, näherte sich dabei aber langsam. Nahe heran, erstarrte der Reiher. Hatte er sie gesehen? Gundula konnte es nicht länger aushalten und sprang vom Drachenwurz-Versteck aus weiter zwischen die Rohrkolben und das dichte Schilf, zwängte sich hindurch und hinab, hinab in den trüben Sumpf, während sie noch gerade so mitbekam, wie der Reiher ihr nachsetzte und offenbar aufgrund des langen Halses mit dem dichten Schilfgewirr weniger Probleme hatte als erhofft. Durch ihre Bewegung war all der Schlamm aufgewirbelt und nichts mehr zu sehen. Der Reiher fischte im Trüben und Gundula zwängte sich verzweifelt seitwärts und weg, während wohl irgendwo ziemlich dicht hinter ihr ein Reiherschnabel das Schlammdickicht zerhackte, aber wohl nicht traf, aber motiviert weiter suchte.
Irgendwie hatte sich Gundula aus der direkten Gefahrenzone gewurschtelt und war unter ein überhängendes Uferstück gekrochen. Zumindest dachte sie das zunächst, es schien aber eher ein Gang irgendeines Getiers zu sein, welches vermutlich nicht sonderlich Wert auf Besuch legte, aber da der Reiher noch immer stocherte und dabei recht systematisch vorzugehen schien, blieb ihr wohl keine Wahl, also rein in den Gang unter der Erde, der immerhin dann etwas nach oben anstieg und die Wasseroberfläche erreichte. Halb im Wasser, halb an der Luft verharrte Gundula voller Angst im dunklen Tunnel. Sie mußte Stunden gewartet haben und zum Glück tat sich im Tunnel nichts. Aber sie mochte nicht bleiben, wußte nicht, welches Tier solche Tunnel gräbt.
Also dann doch irgendwann vorsichtig zurück. Die Abenddämmerung hatte bereits eingesetzt und der Reiher hatte sich verzogen. Immerhin, wieder Ruhe am Teich. Gundula nahm wieder ihren Beobachtungsposten am Drachenwurz ein und schaute sich um. Alles schien wieder friedlich zu sein. Zumindest draußen, denn in ihr kämpfte der Hunger gegen die Gewohnheit im Kopf, die sich noch immer verzweifelt wehrte und den Gedanken weit von sich wies, eine Fliege oder Libelle zu schnappen. Vielleicht waren die eigentlich gar nicht so schlecht? Vielleicht ganz knackig im Biß? Oder eine Schnecke? Selten gab es die bei Banketten am Hofe und auch dort hatte sie die schon nicht gemocht, auch keine Austern oder Froschschenkel. Wobei ihr bei letztem Gedanken einmal mehr der Atem stockte. Ob Frosch oder Kröte, wer machte da hier auf dem Lande schon einen großen Unterschied? Und wenn jemand vorbeikäme, Frösche für eine Mahlzeit zu fangen, sie ihn wagte anzusprechen und dafür in einer Pfanne landete? Sie schauderte.
Nach der Abenddämmerung war da zunächst einmal wieder der Mond, der sie mit seinem Licht wenigstens noch etwas erkennen ließ. Doch dann schoben sich Wolken davor. Und in der Finsternis waren die Geräusche der Nacht nur noch geheimnisvoller und unheimlicher. Sie wagte nicht einzunicken, obwohl sie inzwischen sehr müde war. Sie wagte es nicht, doch ihr Körper tat es ganz automatisch ...
Ein Prasseln und Hämmern weckte sie. Erschrocken sah sie sich um. Es regnete, nicht besonders heftig, aber es war kälter geworden als in der vorherigen Nacht. Immerhin war bereits Morgengrauen und grau vor Wolken war der Himmel, aber wenigstens konnte sie wieder etwas sehen und auch der unfreiwillig riskierte Schlaf hatte ihr ganz gut getan.
Es schien nur ein sommerlicher Wolkenbruch zu sein, der sich bald beruhigte. Die Wolken verzogen sich und gaben die Sonne frei, deren Wärme nun an Kraft zunahm und die Gegend belebte. Von den Pflanzen tropfte es noch, da sah man schon einige Fliegen, Mücken und auch Bienen, eine Hummel ziehen.
Diesmal stakste am frühen Nachmittag ein Storch über die benachbarte Wiese, zum Glück kam er erst einmal nicht so dicht an den Teich heran. Gundula beobachtete. Vielleicht hielt er ja wenigstens den Reiher fern oder die Krähen, die ein ganzes Stück weiter in den Bäumen offenbar einen verwandtschaftlichen Streit austrugen. Gundula hatte ständig Angst, etwas Wichtiges zu übersehen, nicht im richtigen Moment die Flucht anzutreten, entdeckt zu werden. Es war grauenhaft. es beruhigte ja auch nicht, daß der Storch aus ihrem Gesichtswinkel verschwand, denn vielleicht näherte er sich gerade von einer schwieriger zu übersehenden Seite aus wieder dem Teich, um dort nach einer Leckerei zu suchen.
Hatte sie ihrerseits schon Appetit auf einen knackigen Insektenhappen? Der Hunger war da und das kleine Getier im und um den Teich herum erschien ihr allmählich eine verlockende Mahlzeit zu sein. Was, wenn die Natur des Tieres ganz von ihr Besitz ergriff, Instinkte all ihr Verhalten steuerten, wenn das Tier die Kontrolle übernahm und sie vergaß, wer sie war? Und wer oder was war sie im Grunde schon noch anderes als eine einfache, ängstliche, kleine Kröte in einem sumpfigen Teich?
Dann wurden offenbar die Krähen durch irgendwas aufgeschreckt und flogen auf. Erschrocken hörte sie auch dicht am Teich ein Rauschen von etwas Großem und sah, wie der Storch startete. Der hätte sie sonst beinahe gehabt! Was war es, was die Vögel zum Aufbruch trieb? Doch wohl eine Gefahr, eine Gefahr, die sie nicht sehen konnte. In ihr schienen sich die Gedärme vor Anspannung zu verknoten. Was näherte sich da?