Als jemand klingelte und ein Mann an der Gegensprechanlage erläuterte,
er wolle Annette besuchen und etwas besprechen, vermutete ich dabei nichts
Außergewöhnliches, obwohl Annette selten Besuch bekam.
An der Wohnungstür erkannte ich Michael von den Bildern auf der
internet-Seite, die Annette uns gezeigt hatte. Insgeheim hatte ich die
Seite öfter besucht und seine Texte gelesen und mir angeschaut, was
die Seite sonst noch zu bieten hatte. Sie bot eine Menge an Phantasie und
Unterhaltung, zum Nachdenken und Schmunzeln. Gern geriet ich so ins
Träumen. Ich liebe Literatur und hier konnte ich in schönen
Texten schwelgen. Er hatte auch bei mir Eindruck gemacht. Ich freute mich
für Annette, einen so netten Mann kennengelernt zu haben, lächelte
ihn freundlich an und führte ihn zu Annettes Zimmer, fragte mich,
warum ich nicht mal so viel Glück hatte und klopfte.
Annette sagte "Herein" und beim Öffnen der Tür sprach ich zu ihr, sie hätte Besuch bekommen. Annette drehte sich herum und beide schauten sich mit großen Augen an. Auf meine Frage "Annette, was ist denn los?" wechselte sein Blick verständnislos zwischen mir und ihr hin und her und fragte ratlos: "Annette?" Diese brachte keinen Ton heraus.
Im nächsten Augenblick stürzte Sonja ins Zimmer und vervollständigte
die Szene. Diese faßte Michael an der Schulter und stotterte etwas wie:
"Michael, laß dir doch erklären...!"
Annette fiel ihr ins Wort: "Sonja, es geht nicht..." und Michael stieß
völlig verwirrt hervor, was hier überhaupt gespielt werde. Sonja und
Annette sprachen hektisch durcheinander und versuchten etwas zu erklären.
Ich verstand nur so viel, daß Annette Sonja für sich ausgegeben hatte
und diese Michael bereits einmal getroffen hatte. Ich konnte nur sprachlos
staunen. Auch der von der Täuschung Betroffene schien schockiert und
verwirrt zu sein, schüttelte nur verständnislos den Kopf,
einmal die eine, dann die andere ansehend.
Enttäuscht von den beiden taumelte Michael schaudernd zurück,
beide mit der einen Hand abweisend, mit der anderen nach Halt suchend.
Plötzlich war Stille im Raum. Und dann eilte er hinaus.
Sonja und Annette waren noch immer erstarrt und entsetzt. Selbst war ich
auch verwirrt. Michael sah so verloren, verzweifelt aus, als habe man ihm
den Boden unter den Füßen entzogen. Einem wagen Impuls folgend
lief ich ihm hinterher, da Sonja und Annette offenbar noch immer im Schock
gefangen waren.
Ich holte ihn erst im Park ein und konnte ihn beruhigen, mit ihm reden.
Zögernd erklärte der noch immer stark Aufgeregte mir kurz,
warum er so schockiert von den beiden gewesen sei.
Ich war erleichtert, daß es nicht wegen Annettes Behinderung
gewesen war, betroffen allerdings darüber, was der eigentliche Grund
seiner tiefen Enttäuschung war. Wie hatten meine beiden besten Freundinnen
nur so etwas tun können, ihn so täuschen, ein solch bizarres Spiel
mit ihm treiben. So geht man doch nicht mit jemandem um, den man mag.
Ich verstand die beiden nicht, auch ich war enttäuscht von Sonja und
Annette. Während Michael sich langsam aus seiner Verwirrung redete,
suchte ich noch immer, ihn zu beruhigen.
Keinesfalls wollte er mit den beiden je wieder etwas zu tun haben. Es war eine
Mischung aus Traurigkeit und Verärgerung, in die er sich hineinredete.
Ich nahm zum Trost seine Hand und wir saßen ein Weilchen schweigend
im Park. Ich sann darüber nach, ob und wie da noch etwas zu retten
wäre. Sie verstanden sich doch an sich so gut. Wie hatte das passieren
können?
Ich suchte Michael zu überzeugen, daß es eine plausible Erklärung für das Verhalten der beiden geben müsse. Er beharrte aber darauf, mit den beiden fertig zu sein. Sein Vertrauen war offenbar zutiefst erschüttert und ich ließ ihm Zeit, bis mein Angebot im Raume stand, meine Freundinnen in aller Ruhe zu befragen, zu vermitteln, aufzuklären, was eigentlich passiert sei. Sein Ärger und seine Verletzung schien so tief zu sitzen, daß er dem nicht einmal zustimmen mochte. Er saß in sich zusammengesunken. Er tat mir so leid in seiner Enttäuschung. Ich umarmte ihn und suchte noch immer ihn zu beruhigen. Sowas tat ich sonst nie. Ich berührte Menschen sonst eigentlich gar nicht, unglaublich, daß ich ihn umarmte. Bei ihm war alles anders, besonders in dieser eigenartigen Situation. Er ließ es ohne Gegenreaktion geschehen. Als ich es später noch einmal versuchte, gelang es mir, ihm die Erlaubnis abzuringen, wenigstens mit Sonja und Annette darüber zu reden und ihm am Abend des darauf folgenden Tages zu berichten. Dazu lud er mich zu sich ein.