Geschrieben: 1993-07-27/08-06, 2015-01-09/18
Als die Vorlesung kurz vor 15 Uhr geschlossen wird, gehe ich mit schnellem Schritt Richtung Georgengarten. An der Haltestelle muß ich nicht lange auf M. warten, die um 15:04 mit ihrem Fahrrad erscheint. Wir begeben uns ein Stück in den Park hinein, zu einer Stelle, wo die Sonne scheint und der Straßenlärm nicht so zu hören ist, nachdem wir uns mit einem Kuß begrüßt haben. Was nicht zu übersehen ist, erklärt M. noch kurz, sie habe ihr Saxophon mitgebracht, packt es dabei aus, es blitzt und sie strahlt im Sonnenlicht. Sie wolle mir ein bißchen vorspielen, sie grinst, wieder einer ihrer verrückten Einfälle, was ich in diesem Fall nicht so empfinde. Es werde Jazz sein, sie erläutert, es sei nicht einfach, gut Jazz zu spielen, man müsse, um gut zu spielen, nicht spielen wie der und der oder der und der, vielmehr müsse man einen eigenen Stil entwickeln, mit dem man eins werden müsse, wenn man spiele, Jazz, Instrument und Musiker müßten eine Einheit sein, das Spiel ein kreativer Akt. Was toll gewesen sei: Sie habe ihre Schwester damals begeistern können, als sie noch Zuhause gewohnt hätten, sie auf dem Klavier zu begleiten, das habe nach einigen Versuchen auch ganz gut geklappt. Ihr Vater sei natürlich von Jazz nicht so angetan gewesen, habe aber nichts gesagt, weil ja durch die große Musikbegeisterung nicht nur sein Liebling M. sondern auch das Sorgenkind N. innerhalb seines Einflußbereichs beschäftigt gewesen sei und so in dieser Zeit keine Dummheiten habe anstellen können. Ein paar Mal seien sie aber sogar zum Spaß aufgetreten, manchmal spielten sie noch jetzt zusammen in der Wohnung oder auf Festen von Freunden, in ihrer Wohnung natürlich zur allgemeinen Begeisterung der Nachbarn. Sie würden mir sicher gemeinsam vorspielen, wenn N. wieder da sei.
Ich liege im Gras, und sie beginnt kraftvoll und energiegeladen zu spielen, gerät dabei richtig in Schwung, spielt sehr gut. Einige Spaziergänger bleiben stehen und hören ebenfalls zu. Was sie dem Instrument entlockt, ist wirklich hervorragend, soweit ich das beurteilen kann, obwohl ich zugeben muß, daß ich nicht viel von Jazz verstehe. Das Saxophon blitzt und flackert unter ihren Bewegungen in der Sonne, der Schweiß auf ihrer Stirn, doch sie ist so in der Musik gefangen, daß sie nur hin und wieder meinen Blick sucht, mein anerkennendes Lächeln, und alles um sich herum vergißt. Als sie irgendwann doch das Instrument absetzt, gibt es Applaus nicht nur von mir, sondern von einer ganzen Reihe von Menschen, die sich inzwischen angesammelt haben. M. bemerkt sie erst jetzt, schaut sich überrascht um, verbeugt sich dann aber glücklich lachend nach allen Seiten. Es gibt Rufe nach einer Zugabe, sie versucht abzuwinken, doch es werden immer mehr Rufe, und so spielt sie noch eine Weile weiter, verbeugt sich dann endgültig und ruft, das sei jetzt aber garantiert das Ende der Vorstellung, in den Applaus hinein und packt das Instrument wieder ein.
Die Leute gehen und sie setzt sich neben mich ins Gras, ich lobe noch einmal die Virtuosität ihres Spiels und ihr wunderbares Musikgefühl, doch sie bricht die Lobeshymnen ab, indem sie mit ihren Händen durch mein Haar fährt und ihre Lippen auf die meinen preßt, in einem leidenschaftlichen Kuß finden sich unsere Zungenspitzen wieder zu einem flüchtigen Spiel, dann liegen wir nebeneinander in der Sonne. Es tut uns wohl beiden gut, so entspannt beieinander einfach in der Sonne zu liegen und die Zeit verstreichen zu lassen. Sie hat dann ihren Kopf auf meine Brust gelegt und wir dösen noch eine Weile im duftenden Gras, wobei Sonne und Wetter ihr Bestes geben, um es uns angenehm zu machen.
Sie fragt mich nach meiner Lieblingsmusik oder Lieblingsgruppe. Ich erläutere, es gefielen mir einige der etwas älteren Pop-Musik Gruppen, besonders begeistert sei ich von den alten Genesis-Stücken, sie kennt aber nur die neueren, hält sie immerhin für ganz passabel, so reden wir noch eine Weile über Pop-Musik. Stücke, die ich noch kenne, weil mein älterer Bruder die Platten hat, sind ihr aber oft nicht mehr geläufig, und von der Pop-Musik der neueren Gruppen der letzten paar Jahre sind wir größtenteils beide enttäuscht.
Als wir uns zum Aufbruch entschließen, stellt sich die Frage, wie es zu ihrer Wohnung gehen soll. Mit Saxophon und meiner Tasche können wir schlecht zu zweit mit dem Rad fahren, also müssen wir uns kurz trennen, sie fährt mit dem Rad, ich mit der Straßenbahn.
Die Musik ist der vollkommenste Typus der Kunst: Sie verrät nie ihr letztes Geheimnis.
Oscar Wilde
Wenn die Musik der Liebe Nahrung ist, spielt weiter!
William Shakespeare (Was ihr wollt)
Im Wesen der Musik liegt es, Freude zu bereiten.
Aristoteles
Musik ist höhere Offenbarung als alle Weisheit und Philosophie.
Ludwig van Beethoven