Geschrieben: 1993-07-27/08-06, 2015-01-09/18
Die in den neunziger Jahren des letzten Jahrhunderts handelnde Geschichte, ein philosophisches Luststück rund um die Liebe, ist in Hannover angesiedelt, primär in der Studentenszene. Personen und Handlung sind nicht biographisch. Der Text ist in der dargestellten Form und Kombination der Ereignisse also rein fiktional.
In der Erzählung werden auch sexuelle Handlungen dargestellt, wer eine Konfrontation mit diesem Bestandteil des menschlichen Lebens in Erzählungen eher vermeiden möchte, dem sei eher zu einer der anderen Erzählungen ohne solche Darstellungen geraten.
Ich habe dich so lieb
Joachim Ringelnatz
- Ich habe dich so lieb!
- Ich würde dir ohne Bedenken
- Eine Kachel aus meinem Ofen
- Schenken.
- Ich habe dir nichts getan.
- Nun ist mir traurig zu Mut.
- An den Hängen der Eisenbahn
- Leuchtet der Ginster so gut.
- Vorbei - verjährt -
- Doch nimmer vergessen.
- Ich reise.
- Alles, was lange währt,
- Ist leise.
- Die Zeit entstellt
- Alle Lebewesen.
- Ein Hund bellt.
- Er kann nicht lesen.
- Er kann nicht schreiben.
- Wir können nicht bleiben.
- Ich lache.
- Die Löcher sind die Hauptsache
- An einem Sieb.
- Ich habe dich so lieb.
Grauschleier
fehlfarben
- ich habe das alles
- schon tausendmal gesehen
- ich kenne das leben
- ich bin im kino gewesen
- und doch:
- jedes mal wenn ich sie seh
- weiß ich nicht wie es gehn soll
- ich find nicht den dreh
- es liegt ein grauschleier
- über der stadt
- den meine mutter
- noch nicht weggewaschen hat
- die geschichte ist langweilig
- und immer dasselbe
- die bücher zu thema
- sind auch nicht das gelbe
- und will ich ihr dann
- mal was sagen
- dann fällt mir nichts ein
- nur leere Phrasen
- es liegt ein grauschleier
- über der stadt
- den meine mutter
- noch nicht weggewaschen hat
- die musik aus der küche
- ist auch schon ziemlich zerkratzt
- ich habe geweint
- bei jedem zweiten satz
- und wenn ich dann schon
- mal was eineindeutiges tu
- dann fürcht ich sogleich
- sie denkt: laß mich in ruh
- es liegt ein grauschleier
- über der stadt
- den meine mutter
- noch nicht weggewaschen hat
- es liegt ein grauschleier
- über der stadt
- den meine mutter
- noch nicht weggewaschen hat
Das Kuß-Gedicht
Gerrit Engelke
- Der Menschheit größter Hochgenuß
- ist ohne Zweifel wohl der Kuß.
- Er ist beliebt, er macht vergnügt,
- ob man ihn gibt, ob man ihn kriegt.
- Er kostet nichts, ist unverbindlich
- und er vollzieht sich immer mündlich.
- Hat man die Absicht, daß man küßt,
- so muß man erst mit Macht und List
- den Abstand zu verringern trachten
- und dann mit Blicken zärtlich schmachten.
- Die Blicke werden tief und tiefer,
- es nähern sich die Unterkiefer.
- man pflegt dann mit geschloß'nen Augen
- sich aneinander festzusaugen.
- Jedoch nicht nur der Mund allein
- braucht eines Kusses Ziel zu sein.
- Man küßt die Wange und die Hände
- und auch noch and're Gegenstände,
- die ringsherum mit Vorbedacht
- sämtlich am Körper angebracht.
- Auch wie man küßt, das ist verschieden
- Im Norden, Osten, Westen, Süden.
- So mit Bedacht und mit Gefühl,
- der eine heiß, der and're kühl.
- Der eine haucht, der and're schmatzt,
- als ob ein alter Reifen platzt.
- Hingegen wiederum der Keusche
- vermeidet jegliche Geräusche.
- Der eine kurz, der and're länger,
- den längsten nennt man Dauerbrenner.
- Ein Kuß ist, wenn zwei Lippenlappen
- in Liebe aufeinanderklappen
- und dabei ein Geräusch entsteht,
- als wenn die Kuh durch Matsche geht.