Geschrieben: 2014-10-20/11-25
Gemäß der Allgemeinen Relativistik stellt sich das Leben im Grunde als eine Kurve durch die Raumzeit dar und was von der Raumzeit erfahrbar ist, ist eine Art Kegel, der zu jedem Punkt der Kurve konstruiert werden kann. Da bleibt nicht viel von Selbstbestimmung, es passiert einfach. beziehungsweise ist bereits als Kurve in der Raumzeit existent. Es gibt in dem Sinne keine Entwicklung entlang einer unabhängigen Zeitachse, die von der Gegenwart aus gesehen in der Zukunft unbestimmt wäre. Gegenwart, Vergangenheit, Zukunft sind in diesem Bild allenfalls noch Konzepte, die einen Standpunkt entsprechend eines beliebigen Punktes der Kurve durch die Raumzeit beschreiben, nicht jedoch irgendeine Wahlfreiheit.
Aber es gibt auch die Quantenphysik, die uns zwar deutlich macht, daß es so einfach gar nicht ist, daß nichts eindeutig determiniert ist. Der Übergang von den Wellenfunktionen oder Zustandsvektoren der Quantenwelt, welche nicht deterministisch Wahrscheinlichkeitsverteilungen beschreiben, zu unserem klassischen Alltag bis hin zu dem großräumigen Skalen, in welchen eindeutig die Allgemeine Relativistik dominiert, ist indes eine komplizierte Angelegenheit. Unser klassischer Alltag ist komplex und irgendwie zwischen der nicht deterministischen Quantenwelt und der deterministischen Allgemeine Relativistik angeordnet. Sowohl Zufall als auch prognostizierbare Verhalten ist uns in gewissem Rahmen in der klassischen Welt vertraut. Würfel etwa verhalten sich recht zufällig, die Bewegung von Planeten um Sonnen sind gut prognostizierbar. Und doch werden diese Alltagsobjekte von der selben Physik bestimmt.
Irgendwo zwischen Zufall und vorhersagbarem Verhalten konstruiert sich das Ich also seine Welt und seinen freien Willen, seine Selbstbestimmung - Entscheidungsfreiheit im Spannungsfeld von Zufall und Vorherbestimmung, wobei sich aus keinem von beiden direkt ein freier Wille ableiten läßt? Da das naturwissenschaftliche Weltbild sich immer gut an Messungen und Beobachtungen anpassen läßt, stimmen die Modelle. Es ist also naheliegend, daß etwas mit der Selbstwahrnehmung des Ichs nicht stimmt.
Und ist diese scheinbare(?) Entscheidungsfreiheit des Ichs wirklich mehr als die kleine Auswahl am Ende fast jeden Abschnittes der Erzählung? Fällt uns wirklich immer mehr ein als so eine kleine Auswahl? Und ist es diesem Ich jemals gelungen zu ergründen, wie eine Entscheidung zustande gekommen ist? Teilweise müssen Entscheidungen in Bruchteilen von Sekunden getroffen werden, das kann ja nicht einmal gut durchdacht sein und ist manchmal vielleicht gar nicht so weit weg von einer Zufallsentscheidung. Andererseits prägt das Ich natürlich auch, was es vorher erlebt hat. Vielleicht ist das nicht gerade so starr wie ein Schienensystem, aber wer schaltet nicht hin und wieder mal gern auf Automatik?
Tatsächlich läuft ein großer Teil des Lebens ohnehin unbewußt in einer Art Automatikmodus ab.
Und was ist es eigentlich, was im Ich Entscheidungen trifft?
Und was, wenn wie in der Erzählung die bewußte Erinnerung wegfällt? Worauf gründen sich dann noch
die freien Entscheidungen des Ichs, wenn jegliche Basis dafür fehlt?
Natürlich steuert das Unterbewußtsein weiter, doch nun wird dem Ich klar, daß es gar nicht so viele
begründbare und bewußte Entscheidungen trifft, gar nicht so frei und selbstbestimmt ist.
Dem Protagonisten der Erzählung wie dem Leser wird ziemlich schnell klar, wie begrenzt die Auswahlmöglichkeiten
sind und wie wenig die Wege selbstbestimmt sind, die zur Wahl stehen. Zumindest für den Leser hat
der Autor bereits die Möglichkeiten innerhalb der Erzählung festgelegt. Das gilt im Grunde auch für
Computerspiele, die auf den ersten Blick dem Spieler eine viel größere Wahlfreiheit zubilligen.
Indes, zumindest bei älteren Programmen dieser Art gehört es auch zu den fortgeschritteneren
Vergnügungen, nach Wegen zu suchen, die von den Autoren so nicht vorgesehen waren und die
Geschichte ins Absurde führen.
Natürlich geht dies 'gegen den Strich' vorgehen sogar auch bei klassisch linear gedruckter Literatur,
der Leser braucht ja nur die Absätze in einer anderen Reihenfolge zu lesen, als sie der Autor angeordnet hat,
um einen ähnlichen, absurden Effekt zu erzielen.
Daran zeigt sich bereits, daß dieser Weg der Selbstbestimmung des Lesers bei einem Werk nicht notwendig besonders weit führt.
Wenn der Autor das Werk nicht dazu ausgelegt hat, ergibt solch eine Auflehnung meist keinen besonderen Sinn
und macht allenfalls allein der Auflehnung gegen das 'Diktat' des Autors wegen Spaß.
Und wenn der Spieler bei so einem Ballerspiel einfach nicht ballern will?
Gut, wenn er sich dem Zwang des Spiels verweigert, wird der Imperativ der Autoren ihn früher oder später
aus dem Spiel drängen, doch bis dahin gibt es das süße Vergnügen des Widerstandes, der Revolution.
Da das Ballerspiel selbst keinen Sinn ergibt,
ist natürlich die Auflehnung der Spieler gegen das 'Diktat' der Spieleentwickler dabei auch komplett unproblematisch,
die Revolution bleibt ohne Folgen.
Diese Neigung, sich gegen 'das System' aufzulehnen, ist natürlich auch eine Schiene im Kopf, das passiert nicht von jetzt auf gleich, das ist lange vom Unterbewußtsein aufgrund vorheriger Erfahrungen entschieden und etabliert. Man kann eben nicht frei entscheiden, was man will. Der Ausbruch aus einer Beschränkung, aus einem Zwang ist eine Konsequenz aus dem, wie sich das Ich als dynamischer Prozeß zuvor entwickelt hat und zwar aufgrund der Wechselwirkung mit der Umgebung und dem, was die Gene dem Individuum so mitgegeben haben. Nur weil man das aufgrund seiner Komplexität nicht im Detail versteht, ist das noch kein Hinweis auf einen freien Willen.
Und ein 'Quantenschalter' im Unterbewußtsein, der zufällig wählt, ist nichts, was ein Wesen dringend
braucht, welches sich hauptsächlich mit einer klassischen Welt auseinandersetzen muß, von daher
nichts, was im Rahmen der Evolution Vorteile mit sich bringen würde.
So oder so bleibt ein Rest aus Ungewißheit, wie das nun wirklich funktioniert, wenn wir Entscheidungen
treffen.
Diese einfachen Spiele oder auch diese Erzählung stellen nur besonders auffällig heraus,
wie beschränkt die Auswahl meist ist.
Bei der Erzählung - ist die getroffene Wahl vielleicht zum guten Teil schon vom Autor suggeriert?
Und wenn nicht, solange dieser keinen Fehler macht, ist ja für jede Wahlmöglichkeit etwas vorgesehen.
Die Selbstbestimmung des Lesers bei nicht linearen Geschichten und auch in Spielen hält sich also in engen
Grenzen, aber im Grunde ist das im Leben nicht anders.
Im Vergleich mit einer klassisch linear erzählten Geschichte ergibt sich durch die nicht lineare Struktur
natürlich eine größere Freiheit auch für den Leser, aber eben nur in den vorgegebenen Bahnen,
die sich der Autor erdacht hat.
Im 'wahren Leben' gibt es zwar keinen Autor, der etwas vorschreibt, keine andere Person, die bestimmt,
aber doch die Raumzeit und die Quantenphysik, die zusammengenommen letztlich vollkommen bestimmen,
was uns bewegt. Da bleibt für ein Ich wenig mehr als die eigene Illusion, ein Ich mit freiem Willen zu
sein. Also letztlich Selbsttäuschung statt Selbstbestimmung.
Das verblüffte Ich muß also erstaunt bei kritischer Analyse feststellen, das es zwei Illusionen aufgesessen ist, der Illusion, ein Ich zu sein und der Illusion, einen freien Willen zu haben und damit Selbstbestimmung.
Und doch hat das schlaue Ich noch ein Aß im Ärmel, es muß etwas existieren, was die Illusion erzeugt,
von nichts kommt nichts, also ist das Ich, was die angebliche Illusion des Ichs erschafft.
Die Welt hingegen, welche das Ich zu Illusion macht, könnte selbst eine Illusion des Ichs sein,
ein Modell von der Welt.
Und so bleibt ein Gleichgewicht der Ungewißheit gewahrt - die Welt behält sich vor, das Ich in
Zweifel zu ziehen und das Ich behält sich vor, die Welt in Zweifel zu ziehen.
Aber auch das ist keine Befreiung des Ichs, denn ohne Interaktion mit einer Welt, an die es
glaubt, ist das Ich nichts und verliert sich schnell im Wahnsinn.
Mehr?