Geschrieben: 1995-10-08/14
Sonja weiß nicht, wieviel Zeit vergangen ist, als hinter ihr jemand mit etwas zittriger Stimme zu ihr sagt, sie sollte vielleicht erst einmal mitkommen, von der Straße herunter, sich setzen, sich vom Schreck erholen. Jetzt erreicht das Gemurmel von anderen Menschen wieder ihr Bewußtsein. Sonja dreht ihren Kopf. Erst jetzt spürt Sonja, daß ihr ganzer Körper zittert.
Sonja sieht den Mann, dem noch das Entsetzen im Gesicht geschrieben steht, aber seine Stimme klang schon
einigermaßen ruhig, beruhigend.
Er wird jetzt versuchen, sie an der bloßen Hand zu fassen und von der Straße herunter zu begleiten.
Doch bevor er ihre Haut berührt, zuckt unwillkürlich ihr Arm zurück.
Hat er das bemerkt?
Die schon herannahende Hand bleibt kurz vor der ihren in der Luft hängen. Der Lastwagenfahrer ruft etwas, was nicht bis zu ihr dringt. Der Mann wirkt etwas hilflos in dieser Situation, traut sich nicht, Sonja zu berühren, wiederholt nur zögernd, beide müßten nun wirklich von der Straßen herunter. Wieder macht er Anstalten, Sonja zu berühren. Inzwischen hat diese aber so weit die Kontrolle über ihren Körper wiedergewonnen, daß sie selbst einen unsicheren Schritt Richtung Bürgersteig macht. Erkennend, daß sie nun reagiert, hält der Mann abermals in der Bewegung inne, steht so zwischen Laster und ihr, schirmt diese so vom Fahrer ab, während Sonja einen weiteren Schritt schafft und noch einen, jetzt geht es schon besser. Schritt für Schritt bis zum Bürgersteig, der Mann an ihrer Seite wagt nicht, Sonja zu halten und zu führen. Trotzdem fühlt seine Anwesenheit sich irgendwie wie eine Hilfe an, seine Gesten sind Versuche, Schutz, Geborgenheit, Abschirmung zu gewähren.
Auf dem Bürgersteig angekommen meint der Mann, Sonja solle sich besser erst einmal vom Schrecken erholen, im Café dort drüben einen Tee trinken. Unsicher nickt diese, es geht Schritt für Schritt weiter. Im Café angekommen, sinkt Sonja förmlich auf einen Stuhl. Ihr Begleiter bestellt.
Der Schreck lähmt noch immer ihre Gedanken, Sonja schaut in seine Augen, ihre Anspannung löst sich in einem zögerlichen Lächeln. Ihr Begleiter ist sichtlich erleichtert. Gleich darauf bringt er jedoch seine Befürchtung zum Ausdruck, er habe wohl eine schreckliche Dummheit begangen, als er ihr gefolgt sei, welche alsdann beinahe in einer Katastrophe geendet habe.
Ihr ist klar, dies wäre jetzt ihr Einsatz, von ihr müßte etwas dazu erwidert werden, kann aber nicht, schüttelt nur kaum merklich den Kopf. Er versteht natürlich nicht so ganz, was Sonja meint, aber ihre Augen, ihr Lächeln halten ihn fest. Der Tee kommt, er rührt deutlich unsicher, was er als nächstes tun soll, darin mit dem Löffel herum. Zögerlich berichtet ihr Begleiter, er habe ihr Lächeln in der Untergrundbahn so bezaubernd gefunden, daß er ihr einfach habe folgen müssen. Wie froh sei er gewesen, sie in der Station wiederzusehen. Er habe gar nicht richtig denken können, sei ihr einfach gefolgt, als sie hochgelaufen sei. Dadurch sei beinahe jener Unfall passiert und nun wisse er nicht, was er sagen solle. Darin erkennt sie sich wieder, doch allmählich muß ihrerseits etwas gesagt werden, aber Sonja weiß immer noch mitnichten, was.
Leise sagt Sonja endlich, sie hätte besser aufpassen müssen, als sie auf die Straße gelaufen sei. Sie sei nicht eigentlich vor ihm weggelaufen, mehr vor der Situation. Sie sei genauso unsicher wie er, sei von der Situation so überrascht gewesen, daß sie den Fehler mit der Straße gemacht habe. Aber das sei nun erledigt. Während er vielleicht etwas über sich erzähle, könne sie sich erst noch Tee trinkend erholen, lautet ihr Vorschlag. Langsam bekommt Sonja sich sowie diese besondere Situation wieder in den Griff, so fühlt es sich jedenfalls an. Gerade weil er unsicher ist, ist er ihr keineswegs unsympathisch. Gerade weil er so rücksichtsvoll war, jedwede Berührung vermieden hat, ekelt Sonja sich nicht vor ihm, findet ihn sogar ganz nett. Tatsächlich beginnt ihre neue Bekanntschaft nun, etwas von sich zu erzählen, wird dabei auch sicherer.
Später erzählt Sonja auch etwas von sich.
Eigentlich empfindet sie die Situation als ganz spannend, doch letztlich weiß Sonja nicht, wie es gehen soll.
Ihre Hand und die von dem Mann liegen dicht voreinander auf dem Tisch, was in ihr die Ahnung, gar Befürchtung aufkommen läßt, wenn er noch dichter herankommt, ist unweigerlich alles vorbei, dann wäre Flucht angesagt, der Drang wäre einfach zu groß, sich aus der zunehmenden Enge zu befreien.
Aber Sonja kann ihm doch nicht einfach erzählen, was es mit ihren Schwierigkeiten mit Männern auf sich hat, doch wenn dies unterbleibt, keimen in ihm falsche Hoffnungen.
Dabei ist für Sonja deutlich zu sehen, wie sehr er das Zusammensein mit ihr genießt.
Kann Sonja dem einfach ein Ende setzen mit der nüchternen Schilderung ihres Problems?
Es ist doch noch ein ereignisreicher Abend geworden, doch wie wird Sonja es meistern, daß dieser Abend nicht in einer Katastrophe für einen von ihnen beiden endet.
Sonja ist ratlos.
Später kommt irgendwann das Ende des gemeinsamen Abends. Natürlich möchte ihr neuer Bekannter Sonja wiedersehen. Bis jetzt kennt dieser nur ihren Vornamen. Sonja weiß mehr über ihn, könnte ihn bei Bedarf wohl wiederfinden, wenn dringlicher Bedarf aufkäme. Das ist der Zeitpunkt, zu dem beide Adressen tauschen sollten oder ein neues Treffen ausmachen. In Bezug auf letzteres mag Sonja sich nicht auf einen genauen Termin festlegen, so jedenfalls lautet ihre Behauptung. Also bleibt das Adressentauschen. Das ist feige, denkt Sonja, zwar ist bis jetzt nichts Unangenehmes passiert, doch falls ihre neue, flüchtige Bekanntschaft ihre richtige Adresse bekäme, nähme die Katastrophe unweigerlich ihren Lauf. Sonja ärgert sich über ihre eigene Feigheit, als sie ihm eine falsche Adresse aufschreibt. Sonja kommt sich richtig gemein vor, als ihr neuer Bekannter diese arglos einsteckt.
Dann gehen beide auseinander.
Sonja sieht noch einmal in seine Augen, er ist so glücklich, sie kennengelernt zu haben.
Es tut ihr weh, ihn mit der Adresse hereingelegt zu haben.
Aber Sonja kann keinesfalls riskieren, ihn wiederzusehen.
Sie hält sich gleichzeitig für gemein und feige, als sie ihm nachschaut, wie ihr neuer, flüchtiger Bekannter die Treppe zur Untergrundbahn hinunter mit sichtlich guter Laune verschwindet.
Aber Sonja weiß, auf Dauer wäre ein Kontakt doch wohl unerträglich, müßte sich ins unweigerlich Widerwärtige kehren; schlimmer noch als ihre Einsamkeit wäre die allzu große Nähe eines Mannes.
Eine Träne läuft ihre Wange herunter, als Sonja den Zettel in der Hand schon über dem Abfalleimer schweben läßt.
Sollte Sonja den Zettel vielleicht doch behalten, den Mann alsbald schon anrufen?
Sollte Sonja den Zettel besser gleich wegwerfen, um wieder in den gleichmäßigen Strom ihres ereignislosen Lebens zurückzufinden?
Einen Moment bleibt alles in der Schwebe, wie der Zettel in ihrer offenen Hand über dem Abfalleimer …