Alternative Buchvariante (EPUB) mit Graphik
Geschrieben: 2015-07-15/08-03
Morgens erwachte Paul zuerst. Da es schon nicht mehr so früh war, weckte er Gundula zügig mit einem Kuß. Obwohl es wohl bereits von der Zeit her drängte, zog sie doch eine innige Umarmung und weitere Küsse einem sofortigen Aufbruch vor. Dann machte sie sich aber doch los und eilte hinaus in ihr Zimmer.
Auch diesmal blieb der Sachverhalt der gemeinsam verbrachten Nacht ansonsten unbemerkt und das Frühstück nahmen sie bereits wieder gemeinsam ein. Ein besonderes Pflichtprogramm oder besondere Aufträge waren für heute nicht vorgesehen, von daher konnten sie frei entscheiden, was sie heute tun wollten. Gundula hatte einen Ausritt für den Morgen geplant. Sie hatte gleich zum Frühstück einen Plan der Umgebung mitgebracht und erklärte einige mögliche Strecken. Wie man so plauderte, verfiel sie wieder schnell in zweideutige Metaphern. So sollte es also auf bereits bekannten Wegen, aber auch mal querfeldein durch die nähere Umgebung gehen, damit Paul ein wenig von ihrem Reich kennenlernen konnte. Der Ausflug sollte bei einem schönen Aussichtspunkt gipfeln, von welchem man eben die Aussicht während eines Picknicks zum Mittag genießen wollte, danach sollte es dann über ein paar Umwege zurück zum königlichen Hof gehen. Gundula meinte allerdings auch, die Karte würden sie nicht brauchen, die Praxis sei doch viel detailreicher, so müßten sie einfach gemeinsam herausfinden, wo es langgehe. So könnten sie ja auch die Schönheit der Natur, ihre Kraft einfach genießen, indem sie darin aufgingen, ohne sich mit Karten und Konzepten intellektuell zu distanzieren.
Paul war einverstanden und Gundula ließ alles vorbereiten. Bald nach dem Frühstück holte sie ihn bereits in Reitkleidung von seinem Zimmer ab, auch hatte sie bereits Pferde bereitstellen lassen. Vor diesen stehend erläuterte sie, für ihn habe sie eine junge, noch unerfahrene, prächtige Stute ausgewählt, zwar feurig und temperamentvoll und manchmal vielleicht etwas impulsiv, aber im Großen und Ganzen ein sicherlich zuverlässiges Wesen für ihren kleinen Ritt, den er sicher auf ihr werde genießen können. Er müsse zwar immer damit rechnen, daß diese feine Stute ihren eigenen Kopf habe und auch mal eigene Wege gehe, aber im Grunde ließe sie sich schon auf den rechten Weg führen, wenn er in ihrer Richtung liege. Sie sei sich sicher, in seinen Händen sei dies sensible Wesen gut aufgehoben und werde sich wohlfühlen. Sie hingegen hatte für sich diesmal einen herrlichen Hengst ausgewählt, ruhig, besonnen und obwohl folgsam, doch im Zweifelsfalle immer bereit, seine Reiterin vor übermäßigen Schwierigkeiten zu bewahren. Das sei ein zuverlässiger Reitgenosse, auf den sie sich bei einem wilden Ritt bedingungslos verlassen könne.
Paul lächelte sie bei diesen Ausführungen vergnügt an, einmal mehr war er sich nicht so ganz sicher, was sie diesmal vorhatte und wie sie ihre Ausführungen in der Praxis umgesetzt sehen wollte. Aber er war zuversichtlich, daß er es schon herausfinden würde. Gundula fand es dann aber angemessen, flüsternd zu ergänzen, daß es hier wirklich nur um einen Reitausflug gehe und sie von dem Aussichtspunkt wirklich nur gedenke, die Aussicht über die Landschaft zu genießen, dann auch die Kraft, Ausdauer und Lebendigkeit des Tieres zwischen ihren Schenkeln zu genießen.
Paul schüttelte vergnügt den Kopf, sie konnte es nicht lassen, im gleichen Atemzug, wie sie die Metapher zurückzunehmen schien, baute sie sie noch weiter aus. Nun, er wollte sich jedenfalls entspannt ihrer Führung anvertrauen und bei diesem Ritt seine feine, impulsive Stute sicher nicht überstrapazieren, während er ihr natürlich herzlich gönnte, die Kraft, Ausdauer und Lebendigkeit des besonnenen Hengstes zu genießen. Es kam ja gar nicht so genau darauf an, was sie nun unternahmen, Hauptsache sie taten es zusammen und hatten ihr Vergnügen dabei. Einige Stunden weg von den vielen Leuten am Hof würde ihm jedenfalls gut tun, deutlich mehr natürlich das Vergnügen, mit Gundula allein unterwegs zu sein, ohne sich groß darum kümmern zu müssen, ob es nach einem Protokoll gehen mußte, ob jemand eines schrieb oder wer das sein mochte und wer sich da nachher für interessieren mochte.
So ritten sie also los und hatten vergnügliche Stunden, erreichten gemeinsam jene Anhöhe, wo sie wirklich und ganz ohne Metapher einen guten Blick über das Land hatten, nahmen beim Picknick das mitgebrachte Mahl ein, tauschten nur einige recht harmlose Umarmungen und Küsse aus, die jetzt nicht so arg über das Protokoll hinausgingen wie anderes, was sie schon gemeinsam erlebt hatten, dann ging der wilde Ritt auch schon zurück. Wieder daheim versorgten und pflegten sie gemeinsam die schönen Tiere, bevor sie sich von ihnen verabschiedeten.
Dann lud Gundula Paul ein, ihren Turm zu besichtigen.
Die Reitkleidung mußte natürlich gewechselt werden.
So zogen sie sich erst einmal, jeder in seinen Räumen, um.
Gundula holte Paul ab.
Sie trug eines von den einfachen Kleidern, die er beim Krämer besorgt hatte.
Er staunte, aber sie grinste und meinte:
"Edler Recke, ich dachte mir, daß würde uns an die schönen gemeinsamen Tage auf dem Land erinnern."
Dann zogen sie zum Turm los.
Das war nun ein großes Privileg, den Turm betreten zu dürfen, ein noch größeres war es,
daß Gundula ihm nach dem Aufschließen der Haupttür auch gleich noch einen Schlüssel dazu reichte.
Ihm solle ihr kleines, privates Reich nicht verschlossen sein, das wolle sie nun gerne mit ihm teilen,
ihr Rückzugsgebiet, wo sie sich ganz fallenlassen könne.
Und da meinte sie schmunzelnd, nachdem sie die Tür hinter ihnen bereits wieder geschlossen hatte und sie allein waren:
"Ich habe deinen stolzen Turm ja schon eingehend inspizieren dürfen, da ist es nur fair,
daß du auch in meinem ein- und ausgehen magst, wie es dir beliebt."
Paul nickte und fühlte sie sehr geehrt, das war ihr Lieblingsort, wohin sie sich zurückzog, wenn sie ihre Ruhe haben wollte, wo sie sich ganz vergaß und sich fallenlassen konnte, in Literatur schwelgte und ihren Gedanken freien Lauf ließ. Das war ein großes Zeichen von ihr, ihm diesen Ort nicht nur zu zeigen, sondern ihm sogar noch Schlüssel dafür zu überlassen. Diesem großen Vertrauen mußte er mit großem Respekt begegnen und sorgsam mit diesem wertvollen Geschenk umgehen.
Gundula führte einen weiteren Gedanken aus: "Die Zeit als Kind im Elfenbeinturm ist wohl allemal vorbei,
doch mit dir an meiner Seite ist mir nicht bange, es auch außerhalb zu versuchen, aber gern zeige ich dir
auch, was darinnen ist und was einen guten Teil meines bisherigen Seins ausgemacht hat.
Alles ändert sich, alles ist im Fluß.
Das ist sowohl etwas beunruhigend, als auch aufregend.
Es gibt viel mehr als meine kleine Welt hier drinnen, das konnte ich schon feststellen,
insbesondere auch durch dich und mit dir."
Paul erwiderte: "Nun, ich denke, es wäre falsch, wenn du deinen Elfenbeinturm ganz vernachlässigen würdest.
Das sind deine Wurzeln, wo du dich wohlfühlst. Zwar ist die Welt viel größer, aber es wird immer wieder
Stunden geben, wo man sie lieber einmal wieder gern kurz und klein hätte. Und da ist es gut, einen
Rückzugsort zu haben, eine Erinnerung, die Kreativität der Kindheit nicht verloren und vergessen zu haben.
Es ist zwecklos, dem nachzutrauern, was vergangen ist, doch wäre es auch falsch, die angenehmen Erinnerungen
zu vergessen und nicht aus ihnen Kraft zu schöpfen und die Dinge auch einmal wieder einfach einfach sein zu lassen."
Gundula nickte. "Du hast recht. Und als Ausgangsort, um die große, weite Welt zu erforschen, ist dieser Turm
wie gehabt gut geeignet."
So begannen sie also den Rundgang durch den Turm. Einerseits gab es unten an der Tür ein Schild, welches Gundula einstellen konnte, um anzuzeigen, daß sie im Turm war, andererseits gab es auch ein Zugseil zum Läuten und sogar wohl auch eine Art Rohrsystem, mit welchem man sich wohl aus dem Turm vermutlich nicht besonders gut verständlich nach unten melden konnte, das Rohrsystem sah jedenfalls noch nicht besonders alt aus und Gundula erläuterte dazu kurz, das Kommunikationssystem habe sie vor noch gar nicht so langer Zeit einbauen lassen, es habe eine ganze Weile und eine Menge Tüftelei gebraucht, bis sie ein auch praktisch gut funktionierendes System geplant hatte, nun jedenfalls funktioniere es und so sei es gut möglich, sie zu erreichen und gegebenenfalls an eine Sitzung oder ein Gremium zu erinnern, an welchem sie teilnehmen sollte oder wollte.
Den Raum ziemlich weit unten mit Reginas noch in Kisten verpackten Büchern ließen sie aus, stiegen hinauf in jene Bereiche, die reich mit Büchern ausgestattet waren. Gundula machte zunächst eine Führung durch die Räumlichkeiten und zeigte Kunstwerke, vorrangig Bilder und Skulpturen und erzählte zu diesen etwas. Dazu kam so manche Zierart aus Gold und anderen Edelmetallen und auch aus Elfenbein, was natürlich auch alles sehr kunstfertig verarbeitet war. So erläuterte sie auch hier kurz, was sie darüber wußte.
In einer zweiten Runde erläuterte sie die thematische Ordnung der Bücher in dieser üppig ausgestatteten Bibliothek. Für ihre Eltern gab es eine kleine weitere in deren Bereich des Hofes, sowie auch eine sehr große für alle, besonders den Reichkanzler, die Minister und die weiteren Beamten des Hofes. Auch die Stadt hatte noch eine öffentliche Bibliothek für alle Leute. Zweifellos war die Bibliothek in Gundulas Turm aber die prächtigste mit der erlesensten Auswahl von Büchern zu verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen, weiter oben aber auch reichlich Belletristik.
Gundula zeigte Paul einige besonders schöne Stücke, entweder in der Ausführung - oder - was ihr wichtiger war - vom Inhalt her. Hier war sie voll in ihrem Element und schwelgte in den Werken, schwärmte und riß Paul mit, von einem Werk zum nächsten. In ihrer impulsiven Art wollte sie ihm gleich ihren ganzen Schatz zeigen und erklären und verstanden wissen. Sie wurde dabei immer wieder recht hektisch und aufgeregt, daß es nur so aus ihr heraussprudelte, daß Paul sie immer wieder einfach in den Arm nahm, ihren Mund einfach mit seinen Lippen verschloß und sie so einerseits zwar in ihrem Enthusiasmus etwas beruhigte, sie aber natürlich auch gleich anderweitig anregte. Hand in Hand ging es so durch die Regalreihen und die Stockwerke.
Ziemlich weit oben - darüber war nur noch der Boden unter dem Dach, den man nur über eine schmale, herunterklappbare Leiter erreichen konnte - gab es einen gemütlichen Raum, sowohl als Arbeitszimmer genutzt, als auch offenbar als finalen Rückzug vor dem Rest der Welt.
Draußen ganz um den Turm herum gab es einen Balkon, von welchem sie erst einmal weit in die Landschaft hinaussahen, abermals eine sehr schöne Aussicht, wo man sie aber umgekehrt auch gut sehen konnte, von daher hielten sie sich hier wieder sorgfältig an das Protokoll. Das Wetter war klar, so zeigte Gundula in manche Richtung auf umliegende Ortschaften und Landmarken und erläuterte kurz, was zu sehen war. So genossen sie gemeinsam eine weitere schöne Aussicht an diesem Tag. Gundula aber hatte es offenbar doch wieder einmal etwas eiliger und drängte wieder hinein. Sie fand nicht so recht die Ruhe, um einfach einmal nur die Aussicht zu genießen.
Wieder drinnen zeigte sie Paul noch einige Sachen, an denen sie gerade arbeitete, beziehungsweise gearbeitet hatte, bevor das Attentat sie auf ganz andere Wege geführt hatte. Sie diskutierten einige Sachen und erfreut stellte Gundula fest, daß sie sich gut mit Paul über diese Dinge unterhalten konnte. Bei einem technischen Projekt konnte er sogar gleich konstruktiv beitragen, denn es handelte sich um ein Bewässerungssystem, womit er sich ja auskannte. Aber auch bei einem anderen technischen Projekt zeigte sich schnell, daß er sich zügig einen Überblick verschaffen konnte und kluge Fragen stellte, die Gundula gleich stichwortartig notierte, wenn sie sie nicht gleich klären konnte, denn meist wiesen die offenbleibenden Fragen gleich auf Probleme hin, die vermutlich noch gelöst werden mußten. Dann gab es auch noch ein wissenschaftliches Projekt, wo sie einige Grundlagen zu verstehen hoffte. Auch davon hatte Paul bereits gelesen und so begannen sie eine Weile darüber zu diskutieren und Ideen auszutauschen. Aber auch hier hatte es Gundula ein wenig eilig und blieb nicht sehr lange bei einem Thema, sie wollte eigentlich nur eine schnelle Übersicht geben, vertiefen sollten sie all dies später noch.
Pauls Interesse und seine Kenntnisse waren nun weit mehr als Gundula inhaltlich erwartet hatte, als sie beschlossen hatte, Paul hier alles zu zeigen. Sie hatte natürlich schon aus ihrer kurzen, gemeinsamen Zeit gewußt, daß er gebildet war und belesen, hatte aber schlecht einschätzen können, welchen Umfang das hatte und wie sich das mit ihrem Wissen überschnitt oder ergänzte.