Geschrieben: 2001-04-22
Thomas saß wie jeden morgen am Bahnsteig auf der Bank und
wartete auf den Zug in die Stadt.
Er schaute auf die Uhr.
Es sah, wie die Berufstätigen auf den Bahnsteig schlichen, noch
müde und doch schon brav auf dem Weg in die alltägliche
Tretmühle.
Thomas stellte sich vor, wie sie nachher in den Zug eilen würden,
dann ins Bureau oder ans Fließband - dann abends wieder
zurück, schon wieder oder immer noch müde, dann in den
Fernsehsessel und später ab ins Bett - Alltag!
Er wollte über den Bahnhof rufen:
"Wacht auf!"
Doch wußte er, das wäre albern gewesen. Die Zeit der
Revolutionen war vorbei, der Zug war abgefahren.
Er beobachtete die große wartende Menge, schaute auf die Uhr:
In zwei Minuten sollte der Zug eintreffen. Er stand auf.
Thomas überlegte, er sollte den Zug auf- ja anhalten, sollte
sich ihm in den Weg stellen, wenn es sonst keiner tat. Irgendwann,
so wußte er, war die Stunde eines jeden gekommen, da konnte
man sich nicht mehr hinter anderen verbergen, da mußte man
hervortreten und selber etwas tun, sich nicht mehr darauf verlassen,
daß das schon jemand anderes tun würde.
Bei dem Gedanken lachte etwas gehässig in seinem Kopf.
Die Hand zuckte in seiner Tasche krampfhaft und unwillkürlich.
Der Zug kam mit einer Minute Verspätung, doch wie jeden Tag
stieg Thomas nicht ein, er ging wieder.
Auch an diesem Tag war der frühere Zug natürlich nicht
erschienen, auf den er so sehr wartete. In sich zusammengesunken
verließ Thomas abermals den Bahnhof.