Geschrieben: 2001-01-01/11
Lautlos versanken meine Füße in schwerem, tiefen Schnee, der jedes
Geräusch zu verschlucken schien.
So war es ganz still auf dem tief verschneiten Waldweg,
nichts bewegte sich im Wald, der Mond beleuchtete nur mühsam
den schmalen Weg. Nur wenig des Mondlichtes vermochte durch die
schneeverhangenen Zweige der Bäume zu dringen, die sich fast
bedrohlich, vielleicht aber auch fürsorglich und beschützend
über den Weg zu beugen schienen.
Die klare, kalte Luft stach mit jedem Atemzug in meine Lunge,
das Stapfen durch den hohen Schnee ermüdete mich.
Vielleicht hätte ich gar nicht gehen sollen.
Doch da ich mich nun einmal entschieden hatte, sollte es auch
zuende gebracht werden.
Jetzt im Winter war den Weg wohl schon lange keiner mehr gegangen.
Eventuell deshalb hatte ich mich gerade jetzt dazu entschlossen.
Dann kam ich zum See. Der Weg am Ufer entlang war leider unpassierbar, stellte ich nach einigem hin und her im tiefen Gestrüpp fest. Ein Baum war umgestürzt, fast längs des Weges, keinen Platz lassend, ihn zu umgehen, denn unmittelbar neben dem Weg begann gleich dichtes, undurchdringliches Unterholz.
Vielleicht ein Zeichen zur Umkehr?
Ich überlegte. Wenn ich ankäme, wäre es ohnehin Abend
gewesen, schon jetzt war es ja ganz dunkel, allerdings noch nicht
unangemessen spät, aber doch schon etwas ungewöhnlich.
Und wie sollte es weitergehen?
Mein Blick ging über den starren, den Mond wellenlos spiegelnden See. Auch hier kein Geräusch, keine Bewegung. Der See war noch nicht gefroren, aber sicher schon ein eiskaltes Grab, wenn man hineinfiele. Ein kleines Ruderboot war vertaut, die einzige Möglichkeit, wenn ich weiter wollte.
Noch einmal rang ich mit mir, doch erschien es mir jetzt noch sinnloser
umzukehren. Vorsichtig schlich ich über den glatten, verschneiten
Steg zum Boot hin, stieg ein, bedenklich schwankte der Kahn.
Ich balancierte, hockte mich hin, schob den Schnee von der Bank in den
See, schüttelte die angefrorenen Ruder frei, schob mit den
Füßen noch mehr Schnee bei Seite, damit er mir nicht in
die Schuhe fiele, setzte mich, knüpfte das Boot los.
Ich wußte ungefähr die Richtung, doch das Rudern war ich
gar nicht gewohnt, so ging es nur schwer und langsam voran.
Die verschneite Landschaft und der kalte, tiefe See verschluckten
auch hier jeglichen Laut meiner Aktivitäten, als hätte ich
Wattepfropfen in den Ohren.
Immerhin wärmte mich die Anstrengung, doch die Hände an den
Rudern froren ganz erbärmlich.
Nach einiger Zeit mußte ich auch feststellen, daß der
Boden des Kahns wohl etwas morsch und undicht war, langsam sickerte
Wasser zu mir herein. Allzu beunruhigt war ich allerdings nicht,
denn das Ufer war schon in Sicht.
Ich mußte dann allerdings doch eine ganze Weile suchen,
um den Anlegesteg zu finden, auch dort natürlich alles
vereist und glatt. Ziemlich ungeschickt machte ich das Boot fest
und bemühte mich darum, auszusteigen, rechtzeitig, noch bevor
mir das Wasser im Boot in die Schuhe lief.
Beim Aussteigen rutschte ich dann aber tatsächlich noch aus,
gelangte dann aber doch gerade so nicht ins kalte Grab des Sees,
sondern auf allen Vieren und mit den Fingernägeln ins Eis
gekrallt auf den Steg und dann weiter zum Ufer.
Das hatte ich geschafft, atmete erst mal tief durch - auch
unangenehm bei der eisigen Luft - erholte mich von dem
Schrecken und verbarg meine bereits vor Kälte schmerzenden
Finger tief in den Taschen und suchte sie wieder warm zu reiben.
Ich ging den Weg durch den Wald weiter, in ruhigen Schritten.
Ich wußte schon gar nicht mehr, wann ich aufgebrochen war,
aus der dunklen Kälte dem Ziel entgegen. Zuvor war ich
so vor mich hin gewandert, hatte diese leblose, eisige Welt
kennengelernt, hatte manche gefährliche Situation überstanden
und vieles erfahren.
Ich hatte dann ja beschlossen, doch ins Dorf zu gehen, nicht weiter
meinen einsamen Weg entlang, der mir trotz der ihm eigenen Fremdartigkeit
und abweisenden Art schon allzu vertraut erschien.
Immer hatte dieser Weg mir zwar dem Anschein nach neues nähergebracht,
doch nach so langer Zeit schienen auch diese Neuigkeiten immer
vertrauteren Strukturen zu folgen.
Mein Staunen über diese Welt war ungebrochen, aber ich sehnte
mich auch nach etwas Licht und Wärme und Lebendigkeit in jenem
Dorf, welches ja nun bald in Sichtweite kommen sollte.
Und wirklich:
Dort war die Brücke bereits, praktisch das letzte
Hindernis , die letzte Wegmarke, dann sollte der Blick
auf das Dorf frei werden, wenn man den Kopf leicht zur
Seite wendete. Denn dort sollte zum Dorf hin der Wald
aufhören und Felder und Wiesen den Wegesrand säumen.
Ich wußte genau, wie es aussehen würde, denn war
ich auf meinen Wanderungen nicht schon so oft an solchen
Orten vorbeigekommen und hatte von weitem geschaut?
Der Anblick war immer der gleiche oder doch sehr ähnlich -
und doch - so war ich mir sicher - da komme es ja in so einem
Dorf gar nicht drauf an, wie es von außen erscheine, sondern
darauf, dabei zu sein, darinnen zu wohnen.
Ich war auf der Brücke angelangt. Eisig, verschneit und glatt
war auch sie, und führte in einem anmutigen Bogen über
ein Bächlein, welches entweder ganz lautlos seinem Lauf
folgte oder bereits erfroren war, das konnte ich in der Dunkelheit
nicht genau erkennen.
In der Mitte der Brücke konnte ich nicht einfach wieder hinunter
wegen der Glätte, daher versuchte ich es am Geländer
entlang.
Tatsächlich war es möglich, immer mindestens einen
Fuß auf die krustige, feste Schneeunterlage zu setzen
und sich mit beiden Händen festzuklammern.
Auf der linken Seite jenseits der Brücke ging der
Wald nun wirklich in Felder über, der Blick auf das
kleine Dorf war von der Mitte der Brücke aus gut möglich.
Wieder einmal beinahe ausgerutscht hielt ich inne und schaute sinnend
zum Dorf hin. Dicht aneinander gedrängt gekuschelten sich die
Häuschen gegen die Kälte zusammen, aus so manchem Fenster
drang Wärme verheißendes Licht hinaus in die Dunkelheit.
Ab und an ging eines der Lichter aus oder an und vermittelte damit
den Eindruck einer gemütlichen Geschäftigkeit am frühen
Abend im Dorf.
Es war also noch nicht zu spät um anzuklopfen.
Doch wäre ich überhaupt willkommen?
Ich mußte mir eingestehen, ich hatte mir darüber noch gar
keine Gedanken gemacht. Jetzt kamen mir Zweifel.
Waren sich die Dorfbewohner nicht selbst genug?
Wäre ich nicht ein Fremdkörper ohne Sinn und Zweck
in der Dorfgemeinschaft?
Zwar wußte ich manches, was vermutlich niemand dort
wissen sollte, doch wäre solches Wissen dem Dorfe überhaupt
nützlich?
Ich war nicht gekommen, um an Türen zu klopfen, um aus
Mitleid aufgenommen zu werden - um meiner selbst willen, meiner
Fähigkeiten wegen sollte
es sein, doch wem dort im Dorfe sollte daran liegen?
Ich war nun unschlüssig, ob ich wirklich weitergehen sollte
und anklopfen und dann zu sehen, ob mir wohl im Dorf ein Platz
zugewiesen würde - oder besser, ob ich selber einen fände.
Denn Verstellen könnte ich mich kaum, um einen Platz zu
besetzen, der nicht zu mir passte.
Ich könnte auch warten bis die Lichter gelöscht sind
und mich durchs Dorf schleichen.
Was eben noch ein konkretes Ziel gewesen war, erschien mir nun ganz
fremd und ungewiß.
Leichter wäre es natürlich, zufällig käme eine
nette Person vorbei, würde auf mich aufmerksam und lüde mich
in jene Welt ein.
Doch darauf durfte ich nicht rechnen, in der Nacht, im kalten Winter.
Sicher wagte sich jetzt kein Dorfbewohner hinaus in diese Welt,
hinaus aus der wohligen Wärme, der Gemeinschaft, der vertrauten
Umgebung, hinaus in die fremde, kalte, dunkle Welt.
Wenn dann müßte ich schon selbst hinüber.
Doch wäre die Wärme dort und das Licht, wäre das
wirklich erstrebenswerter als die vertraute Kälte und
Dunkelheit hier draußen?
Wäre die sicher nicht ganz konfliktlose Gemeinschaft wirklich
besser als die ruhige, ganz mit sich in eins seiende Lebensweise
hier draußen, wo man manches mal bereits die Wirklichkeit
durch die Eiskristalle hindurchschimmern zu sehen meint? Wohingegen
dort im Dorf hatte man eine eigene Welt aufgebaut, mit selbstgebauten
Mauern, die vor dem draußen zwar behaglich schützen, doch
auch den Blick auf die Wirklichkeit vollständig versperren,
so daß man dort unten wohl nicht einmal ahnt, wie sie wirklich
sein könnte.
Und doch hätte das alles seinen eigenen Reiz im Dorf.
Das Erleben der Gemeinschaft, das Einzigartige herauszufinden
bei jedem seiner Mitglieder, ja selbst einer von ihnen zu werden,
ganz selbstverständlich und selbstvergessen, ohne verbliebene
Fragen im Dorf aufzugehen.
Vielleicht will man ja immer gerade das, was man nicht hat.
Womöglich stand jetzt gerade dort im Dorf jemand am
Fenster seiner wohlig warmen Stube, von all dieser lebendigen
Betriebsamkeit, von all diesem so tun als ob, diesem regelmäßigen
Leben nach den willkürlich festgelegten Regeln und Gewohnheiten
der Gemeinschaft die Nase voll habend. Und der schaute sehnsüchtig
und sich wohl auch leicht schauernd hinaus in die dunkle, eisige,
unbekannte Welt dort draußen, die so viele Geheimnisse birgt,
die nur auf sein forschendes und entdeckendes Leben wartete.
Konzentriert schaue ich zum Dorf hinüber, einzeln zu den Fenstern,
konnten sich unsere Blicke treffen?
Wahrscheinlich gab es dort aber doch niemanden, der so gedacht hätte.
Wahrscheinlich hatte ich einmal so dagestanden und war dann aufgebrochen -
ich hatte es vergessen!
Wäre es eine Heimkehr, wenn ich ins Dorf käme?
Oder war ich wo ganz anders einst aufgebrochen?
Ich hatte keine Ahnung.
Aber es wäre so oder so alles anders, verstehen kann das wohl
nur, wer wie ich seinen eigenen Weg gegangen ist durch die Kälte
und die Nacht, um der Wirklichkeit ein Stück näher zu
kommen.
Und wäre es denn so abwegig, wenn irgendwo dort hinten,
an einem anderen Weg zum Dorf gerade jetzt eine Person stände, die
wie ich auf ihrem Weg gewesen war, nun sinnend ins Dorf blickte, sich
nach etwas Wärme und Licht sehnend? Eine Person, die sich
nach etwas Gesellschaft sehnte, die sich vielleicht einfach nur
etwas ausruhen wollte, dort auch vielleicht niemals ganz Zuhause
sein würde, aber doch eventuell immer im Dorf leben, auch
dazugehören möchte.
Könnte ich eine solche Person nicht verstehen? und sie mich?
Ich schaute in die Dunkelheit jenseits des Dorfes, doch natürlich
konnte ich niemanden erkennen, der den Weg durch die eisige
Dunkelheit ging. Ein Zusammentreffen wäre immer zufällig.
Und gerade jetzt jemanden zu treffen, der sich gerade jetzt auf
dem Weg ins Dorf befand - aussichtslos erschien mir das.
Ich wußte wirklich nicht mehr, ob ich ins Dorf gehen sollte oder einfach weiter meinem einsamen Weg folgen...