Alternative Buchvariante (EPUB) mit Graphik
Geschrieben: 1998-10
Einst lebte in einem kleinen Königreich an der Küste eine junge Prinzessin von so großem Liebreiz, dass ihr die edlen Recken des Landes und die Prinzen des ganzen Kontinents reihenweise zu Füßen lagen (wie sollte es auch anders sein in einer solchen Geschichte).
Auch der jüngere Prinz des Nachbarreiches war ihr sehr zugetan, und auch sie war begeistert von dem Glanz und der Ausstrahlung und seiner stolzen Gestalt. Wie hätte sie nein sagen können, als er daherritt auf seinem weißen Roß und mit prächtigem Gewand und strahlendem Lächeln und sie fragte. Sie schworen sich ewige Liebe, was auch immer geschehen möge, und nach der Verlobung schien ihr Leben eine einzige rauschende Ballnacht zu sein. Sie war glücklicher als je eine Prinzessin gewesen war. Der Hochzeitstermin war schon festgesetzt.
Doch als die düstere Zeit in ihrem Leben begann, war ihr Prinz nicht an ihrer Seite. Stattdessen war er fern in der Heimat, um einen wichtigen Empfang auszurichten. Dann kam alles anders. Ein durch ihre Verbindung mit dem Prinzen finster und intrigant gewordener Verehrer - ein Ritter aus einem Hause mit hohem Ansehen in ihrem Reich - plante den Umsturz.
Der finstere Ritter hatte schon die Königsfamilie in der Hand, wobei bereits die Königin ums Leben kam und der König nach einem Herzanfall dem Tode nahe war. Da gelang es dem weisen Kanzler des Reiches, den Umsturz abzuwenden und die Truppen des finsteren Ritters zurückzuschlagen. Dieser aber hatte die Königsfamilie entführt, die Retter hetzten hinter der Kutsche her, schon kam es zum Kampf, als es in rasender Fahrt auf eine Brücke über ein tiefes Tal zuging. Ein verirrter Pfeil traf den Kutscher, der vom Bock auf die wild galoppierenden Rösser rutschte, die daraufhin erschreckt durchgingen. Die Kutsche schleuderte, brach zur Seite aus, prallte gegen das Geländer, welches splitterte. Die Kutsche schoß in hohem Bogen von der Brücke auf die Talwand zu und zerschellte mit einem furchtbaren Splittern an der Wand - noch sah die Prinzessin ein irres Gewirr der Trümmer und ihrer Geschwister, dann wurde sie hinausgeschleudert und wurde ohnmächtig.
Der Umsturz war niedergeschlagen, doch die Prinzessin war die einzige Überlebende der Königsfamilie. Aber als sie nach langer Zeit wieder erwachte, war alles anders: sie sprach nicht mehr, schien nicht mehr zu hören. Selbst als ihr Verlobter zu ihr sprach, reagierte sie nicht. Sie sah so schlimm zugerichtet aus, daß ihr Prinz sich auch noch von ihr abwandte. Vielleicht war das der schlimmste Schlag für die Prinzessin...
Die kommenden Jahre erholte sie sich körperlich vollständig, bis auf ihre Stummheit und Taubheit und ein leichtes Nachziehen des rechten Beines. Aber sie lebte jetzt völlig zurückgezogen und gedankenverloren in ihrer Welt. Sie kleidete sich sehr einfach und schlicht. An ihrer Erscheinung erinnerte nichts mehr an den Glanz und die Macht von früher. Der weise Kanzler regierte für sie das Land. Weil das Königreich an der Küste lag, war es mit seiner Hauptstadt als wichtiger Handelshafen sehr begehrt. Doch bei allen Bewerbern um ihre Gunst hatte die Prinzessin immer das Gefühl, es gehe immer nur um die Macht. Sie zog sich immer mehr zurück in ihre Einsamkeit. Ihr Blick auf die feine Gesellschaft wurde kalt und gleichgültig. Ironisch ließ sie verkünden, sie nehme den zum Mann, der sie von ihrer Stummheit und Taubheit befreien könne, um ihre Ruhe zu haben.
Mitte zwanzig war die Prinzessin, als der ältere Prinz des Nachbarreiches zu seiner Hochzeit einlud. Der weise Kanzler redete lange auf die Prinzessin ein (die inzwischen von den Lippen lesen konnte), bis sie wirklich zu jener Feier aufbrachen. Das Fest war für sie nur schwer zu ertragen. Natürlich war auch ihr ehemaliger Verlobter dort und amüsierte sich mit den Schönen der Gesellschaft. Zurückgezogen in eine Ecke beobachtete sie in ihrer eigenen Stille das bunte Treiben. Dann sah er sie wieder, spürte, sie war eigentlich noch viel schöner und begehrenswerter als damals und in ihm war die alte Sehnsucht nach ihr wieder geweckt. So kam er auf sie zu, und in ihrem Innersten schmerzten die alten Gefühle so sehr, daß sie fortlaufen wollte. Er stand nur schweigend vor ihr. Ihre Augen trafen sich. Aber was sollte der Prinz mit einer stummen und tauben Frau, schoß es durch seinen Kopf, und der Augenblick war vorbei. Er nickte nur kurz und ging weiter. Sie aber schien zu ersticken, hüllte sich in einen Umhang einer ihrer Dienerinnen und eilte hinaus in die Nacht, in die Stadt, so schnell, daß ihr niemand folgen konnte. Sie irrte durch die Straßen, fast besinnungslos. In ihrem Kopf schienen nun ihre Gedanken immer engere Kreise zu ziehen, es gab keine Außenwelt mehr für sie.
Bis sich mit einem Male Pferde vor ihr aufbäumten, eine Kutsche schlingerte. Eine Hand riß sie aus dem Weg der Pferde, weg vom sicheren Tod, doch nicht ganz weit genug. Die Kutsche streifte sie, wirbelte sie herum, schmetterte sie mit dem Retter gegen eine Wand in eine dunkle Ecke. Die Kutsche hielt nicht einmal, nur das Fluchen des Kutschers hallte noch kurz durch die Straßen.
Erst später erwachte sie mit schlimmen Kopfschmerzen im Dämmerlicht auf einem schmalen Bett. Ein Mann, der etwas älter als sie war, legte einen kalten Lappen auf eine Beule an ihrem Kopf. Als er sah, daß sie erwacht war, sprach er sie an, doch sie konnte ja nichts hören und im Dämmerlicht auch nicht von seinen Lippen lesen. Sie gestikulierte, dann verstand er plötzlich. Ganz aufgeregt durch die Begegnung mit dem Prinzen und den Zusammenstoß mit der Kutsche hatte sie sich bereits aufgerichtet und wollte los. Dieser Mann lächelte sie jedoch ganz offen und freundlich an und beruhigte sie. Sie schaute sich um und sah in dem Raum außer Bett, Tisch, Stuhl und Schrank noch Regale mit Büchern und einen Schreibtisch. Die ruhige Art des Fremden tat ihr gut und flößte ihr Vertrauen ein. Als sich ihre Blicke trafen, fühlte sie sich ganz sicher und geborgen, ohne eigentlich einen Grund dafür zu haben. Er nahm sie an der Hand und führte sie Treppen hinauf. Vielleicht hatte er doch etwas mißverstanden, aber aus irgendeinem Grunde folgte sie ihm diesen Turm hinauf. Oben angekommen wies der Mann auf Glocken und dann auf die Ohren. Irgendwie machte er ihr klar, daß er der Gloeckner war und ihr ein Geschenk machen wollte. Mit einer kurzen Geste erklärte sie sich einverstanden und war gespannt, was nun passieren würde. Der Gloeckner aber kletterte hinauf zur großen Glocke (nachdem er sich mit einer schnellen routinierten Bewegung Watte in die Ohren gestopft hatte).
Sie traute ihren Augen kaum: in schwindeliger Höhe sprang der Gloeckner einfach zur Glocke hinüber, hielt sich mit bloßen Händen an ihr fest und schwang sich mit ihr hin und her. Geschickt den richtigen Rhythmus findend bewegte er die Glocke immer heftiger. Dann schlug das erste Mal der Klöppel gegen die Glocke, dann nochmal, dann regelmäßig. Der ganze Turm erbebte. Der Bewegungen des Gloeckners waren eins mit dem Rhythmus der Glocke, der ganze Turm vibrierte beinahe in Resonanz mit der Glocke. Sie spürte den Schlag der mächtigen Glocke und den bebenden Turm und sah den wilden Blick des Gloeckners auf sich ruhen, sich nun in ein glückliches Lächeln verwandelnd, während er mit immer mehr Schwung mit der Glocke hin und her schwang, aber sein Blick ruhig in ihren Augen ruhte.
Mit einem Male wurde ihr bewußt, daß sie die Glocke hören konnte! Mit jedem Schlag mehr schien ihr Kopf zu bersten. Mit aller Kraft schrie sie auf! Sie taumelte wie betäubt zurück, sich noch an einem Pfeiler haltend, auch dort die Vibrationen des gesamten Turmes spürend. Ihr schwanden erneut die Sinne. Gerade als sie schon fiel, sah sie noch, wie der Gloeckner geschickt zu ihr heruntersprang und sie mit schnellem Griff in seinen Armen auffing. Er hielt sie sicher und fest.
Als sie erneut erwachte, war sie im Palast. Und als sie die Augen aufschlug, sah sie die besorgten Blicke des Kanzlers, des Königs und! des Prinzen auf sich ruhen. Sie konnte sie hören und konnte sprechen, und da war die Freude groß, daß die Prinzessin wieder gesund war. Der Prinz hielt ihre Hand und wieder trafen sich ihre Augen und einen Moment war es wie früher. Da schoß ihr der Gedanke an den Gloeckner durch den Kopf, dem sie so viel zu verdanken hatte, und sie fragte nach ihm. Und sie erinnerte sich an ihren Schwur, den zum Manne zu nehmen, der sie wieder hören und sprechen lasse. Man erzählte ihr, man habe den Unhold in den Kerker geworfen, nachdem man durch das unplanmäßige Läuten mit der zudem sonst nie benutzten Glocke aufmerksam geworden sei und sie bei dem Gloeckner entdeckt habe, der sie auf den Glockenturm entführt habe.
Sie war hin und her gerissen zwischen ihren Gefühlen für den Prinzen und ihrem Wort. Sie hatte nur kurze Zeit bei dem Gloeckner verbracht, doch das hatte einen tiefen Eindruck hinterlassen. Sie war sich sicher, wenn es die alten Gefühle für den Prinzen nicht gäbe, sie könnte keinen besseren Gefährten als den Gloeckner finden. Sie hatte diese Ruhe und Geborgenheit in seiner Nähe in sich aufgenommen und so genossen, sie hatte sich verstanden gefühlt, auch ohne Worte, nur mit Blicken und Gesten. Es war, als ob sie zuhause angekommen sei. Sie klärte das Mißverständnis mit der Entführung auf, und es wurde nach dem rehabilitierten Gloeckner geschickt. Auf dem Weg hatte sein redseeliger Führer ihm vom Schwur der Prinzessin erzählt, der in der hohen Gesellschaft weit bekannt geworden war.
So stand er dann da vor der Prinzessin und dem Kanzler, dem König, dem Prinzen, und alle waren sie verlegen. Noch immer hielt der Prinz die Hand der Prinzessin und sie die seine. Beim Erscheinen des Gloeckners war sein Griff merklich fester geworden. Sie schaute den Gloeckner an und schien zu ersticken, erneut schienen ihr die Sinne zu schwinden in dieser schwierigen Situation, als sich ihre Augen wieder wortlos trafen. Die hohen Herren flüsterten miteinander. Nachdem die Prinzessin schließlich doch ein paar Worte des Dankes mit großer Anstrengung und Sorgfalt formuliert hatte, trat der König auf den Gloeckner zu. Mit feierlichen Worten wurde der Gloeckner zum Prinzen ehrenhalber ernannt, mit der Verpflichtung zur Repräsentation, während das Königshaus sich verpflichtete, die Repräsentation durch Wohnung, Ausstattung und weitere Sach- und Geldmittel in angemessenem Umfang zu ermöglichen. Wie einen verlorenen Sohn nahm der König den Gloeckner in die Arme und auch der Prinz hieß ihn als ehrenhalben Bruder feierlich in der Familie willkommen. Der weise Kanzler betrachtete das alles sehr nachdenklich und gratulierte dem Gloeckner zu seinem neuen Amt. Dieser dankte.
Die Prinzessin wollte nun mit ihrem Retter alleine sprechen, doch der Prinz bat sie zunächst um eine Unterredung mit ihm. Er spürte, daß er nun etwas unternehmen müsse, um die Dinge in seinem Sinne ablaufen zu lassen. Egal wie er sich nachher wirklich entscheiden werde, überlegte er, jetzt müsse erst einmal eine kritische Situation abgewendet werden. Zögernd willigte die Prinzessin in die Unterredung ein, alle anderen wurden gebeten, den Raum zu verlassen. Dann allein mit ihr faßte sich der Prinz ein Herz und bekannte sich zu seiner neu entbrannten Leidenschaft und seinem Verlangen, hielt erneut um ihre Hand an. Er redete auf sie ein, sie könne nicht ernsthaft einen Gloeckner nehmen. So lange bedrängte er sie, bis sie nichts mehr sagen konnte und überredet und einverstanden war.
Dann ging der Prinz hinaus aus dem Zimmer und sprach draußen allein mit seinem neuen ehrenhalben Bruder, erklärte ihm die Situation und die Entscheidung der Prinzessin. Daraufhin wurde der Gloeckner zur Prinzessin gebeten. Sie entschuldigte sich bei ihm für ihr dummes öffentliches Versprechen, daß sie im Grunde nie Ernst genommen habe, erzählte ihm die ganze Geschichte aus ihrer Sicht. Der Gloeckner sprach dann, er habe ihr nicht geholfen, weil sie ein Versprechen gegeben habe. Er habe sie gerettet als sie Hilfe gebraucht habe und habe ihr ein Geschenk gemacht, weil er sie mochte. Er habe kein Interesse an ihr gehabt, nur weil sie eine Prinzessin sei. Er habe einer Magd in großer Not geholfen, habe sie gehalten, in ihre Augen geschaut. Diese Magd habe sein Interesse geweckt, die so ernst aber doch freundlich und gut gewesen sei, deren Zuneigung er gespürt zu haben meinte. Er wisse nicht, zu was es hätte führen können, wenn sie eine Magd geblieben wäre, sehr gern hätte er sie besser kennengelernt, aber das seien nun alles hypothetische Gedanken. Und was passiere, hänge ebenso an ihr wie an ihm, ihr leichtsinniger Ausspruch sei da völlig egal. Allerdings - wenn sie ihm die Bemerkung gestatte - empfehle er ihr jedoch, bezüglich des Prinzen erst einmal in aller Ruhe eine eigene Entscheidung zu fällen, nachdem, was er jetzt über den Prinzen und sie erfahren habe. Wenn sie aber erlaube, werde er sich nun in seinen Turm zurückziehen, denn es sei längst Zeit, die Glocken zu läuten. Als der Prinz und der Gloeckner habe er nun zwei Ämter auszufüllen, er wolle nicht länger säumen, seine Pflicht zu erfüllen...
Wortlos - nur mit einer hilflosen Geste - ließ sie ihn gehen. Sie hatte Tränen in den Augen und war ratlos. Er hatte ja Recht, aber da waren auch die Gefühle für den Prinzen, die sie immer noch in sich spürte trotz der großen Enttäuschung, die er ihr zugefügt hatte, trotz seiner Unzuverlässigkeit. Aber da waren auch die Gefühle für diesen Gloeckner, der wahrlich bereits einen Prinzen ganz anderer Art repräsentierte...
Was sollte sie nun tun?
Und wenn sie nicht gestorben ist, dann lebt sie noch heute. Doch ob sie wirklich glücklich geworden ist, wer kann das sagen?
Was aber ist die Lehre für den Leser?
Oft bekommt man für eine besondere Leistung statt der ausgesetzten Belohnung einen Titel ehrenhalber, den andere auch ganz ohne Leistung erhalten haben.
Was ist die Lehre für den Prinzen?
Oft muß man nur als prächtiger Prinz mit strahlendem Lächeln, gewandtem Auftreten, weißem Roß und süßesten Worten daherkommen, um eine Prinzessin zu gewinnen und auszunutzen.
Was ist die Lehre für die Prinzessin?
Es muß alles zusammen passen. Um einen Prinzen zu gewinnen, muß man die richtige Erscheinung haben, um einen Gloeckner zu gewinnen, muß man seine Hilfe brauchen...
Was ist die Lehre für den Gloeckner?
Unter dem Mantel einer einfachen netten Magd kann auch eine komplizierte Prinzessin stecken.
Erhält man für eine gute Tat oder eine besondere Leistung statt des nicht geforderten aber zugesagten Lohnes einen Titel, nimmt man ihn dankend an und kümmert sich weiter um seine eigenen Sachen...