Geschrieben: 1990-05-18
Die Rasierklinge an der Kehle sprach unvermittelt mein Spiegelbild zu mir, es gäbe eine andere Welt, eine Welt, in der unser Sein und unsere Taten, unsere Liebe, unsere Zwänge, Begierden und Sehnsüchte nicht nur Worte, schwarze Farbe auf weißem Papier seien, sondern Wirklichkeit, in der unsere Theorien nicht mehr Wahrheiten, sondern höchstens noch ganz gut passend seien, in der unsere Gedanken nicht Realität würden, sondern Möglichkeiten, und wo Träume Träume blieben. Dort gäbe es keinen Schöpfer, sondern wirkliches Leben, richtige Menschen, nicht nur leere Worthülsen. Die Philosophie sei dort ebenso wichtig wie entbehrlich. Bei dem Versuch, etwas richtig zu greifen, zerfalle es nicht in Wörter oder löse sich unter kritischem Blick in Nichts auf.
Ich drückte das kalte Metall gegen die Haut, und mein Spiegelbild erstarrte zur bloßen, schweigenden Lichtreflexion. Eine Unsicherheit aber blieb zurück, ob es nicht doch eine andere Welt als die der Worte geben könnte.
Schließlich fragte ich aber doch gelangweilt, den offenbaren Unsinn der Rede meines Gegenübers implizierend: "So eine Welt soll es geben?" und rasierte mich weiter...