Geschrieben: 1992-02-27
Es ist die Leere in mir, die mich in die Nacht hinaustreibt, die Leere, die ich nicht mit Wissen oder Liebe füllen kann oder mit Kaufen, Besitzen, Nehmen, Verbrauchen, wie die vielen anderen sie füllen wollen. Ich bin allein, und meine Hände sind leer, manchmal in den Taschen geballt und versenkt, durch die Haare fahrend oder sonstwie Beschäftigung vortäuschend.
Feiner Sand knirscht zwischen meinen Schuhen und dem feuchten Pflaster, nächtlich dunkle Schaufenster locken mich nicht, ziellos aber zielstrebig schnell eilen meine Schritte durch die Stadt, und fahles Licht einer Laterne fällt in mein Gesicht und macht es totenblaß, bis ich an ihr vorbei bin und dumpfer Schatten mein Gesicht in trübe Leere hüllt.
Ich höre Stöhnen, aufgeregtes Gelächter in der nächsten Nebenstraße. Als ich sie erreiche, beleuchtet eine weiter weg stehende Laterne die Szene nur spärlich, ich halte einen Moment inne.
Es ist eine Gruppe von Personen zu sehen; eine Frau, soweit erkennbar mitte zwanzig, blonde, kurze Haare, liegt mit zerrissenen Kleidern am Boden, stöhnend, wohl auch blutend. Drum herum eine recht gemischte Männergruppe vom geschäftsmäßig eleganten Großtadtbanker über einen potentiellen Familienvater mit Bauchansatz bis zum verwahrlosten, kahlköpfigen, vermutlich arbeitslosen jugendlichen Stiefelmann. Diese Männer sind bewaffnet, Messer blitzen im fahlen Licht der fernen Laterne, drei halten die Frau, zwei streiten sich, zwei weitere stehen daneben und lachen hysterisch und aufgeregt, während der eine gerade noch den Reißverschluß seiner Hose nach oben und den Gürtel fest zieht. Bei dem Streit geht es wohl darum, wer von den beiden als nächstes die Frau vergewaltigt. Unentschlossen gehe ich weiter, langsam. Der nächtliche Ausflug ist kein Mittel gegen die innere Leere, ich weiß nicht weiter. Ich könnte mir durchaus eine Gruppe von Menschen vorstellen, Frauen oder Männer, die sich auf die Vergewaltiger stürzen, sie vertreiben oder gar lynchen. Die Waren, die mich aus den dunklen Schaufenstern anstarren, beunruhigen mich, machen mir vielleicht sogar etwas Angst, ich haste weiter, das Licht der Laternen blendet meine fest auf das Pflaster gerichteten Augen, ein von mir weggekickter kleiner Stein trifft eine Bierdose, deren Inhalt eines anderen Leere gefüllt haben mag, es scheppert dabei leise. Der Stein springt weiter, bleibt auf einem auf dem feuchten Boden festgeklebten Flugblatt liegen - 'GOTT LIEBT DICH' - steht da, ich zertrete davon - 'GOTT' - mit einer Drehung und einem Ruck des linken Fußes auf dem Blatt und dann der Vollständigkeit halber noch - 'LIEBT D'.
Schaufensteraugen verschlingen mich mit ihren Blicken, Preisschilder an den Waren bedrohen mich, im dunklen kaum noch bunte Illusionen wollen mich kaufen, im Sonderangebot. Ausgestellte Kleidungsstücke wollen mich besitzen, fette Würste, plastikeisgekühlte Fischattrappen, Schokoladenosterhasen mich verbrauchen, nackte Schaufensterpuppen mich nehmen. aus dieser bedrohlichen Situation werde ich durch einen Schrei der Frau aufgeschreckt, dann noch ein letzter, leiser, anschließend nur noch Gurgeln, im Umdrehen sehe ich einige der Männer die Straßen laufend überqueren, fliehend, blutige Messer klirrend aufs feuchte Pflaster fallen lassend.
Kurz darauf ist die Straße leer und alles ruhig. Heiß spüre ich jetzt etwas in der Magengegend, ich greife dahin und spüre etwas Feuchtes, Warmes, meine Schritte werden unsicher, ich lehne mich an eine Laterne und habe meine Linke gegen den Bauch gepreßt, ganz rot ist sie schon, Blut tropft auf den Boden, bildet dort schnell eine große Lache, meine Rechte läßt ein bis zum Griff mit Blut bedecktes Messer fallen, ich wanke weiter, falle gegen eine Schaufensterscheibe, elegante Schaufensterpuppen schauen scheinbar besorgt zu mir herunter, wie ich vor ihnen im eigenen Blut zusammensinke, es wird dunkel vor meinen Augen, zunächst noch erkennbare bunte Punkte und irrisierende Sternchen verlöschen, Kälte außer dem warmen Fleck in der Magengegend, Leere, Kälte überall, spüre den Körper nicht mehr, die Einstiche in der Magengegend, Leere, wohlige Leere, vergessen, schon beinahe vertrautes NICHTS . . .