Geschrieben: 1989-06-17; 2021-02-07
Immer soll ich dir neue und schöne Geschichten erzählen, unersättlich bist du, immer neue Geschichten verlangst du von mir.
Gehe nur zunächst aus meinem Kopf heraus, ja, gehe, dann, das verspreche ich dir, ja, ganz sicher, werde ich, du kannst mir vertrauen, erzählen, gehe nur zunächst aus meinem Kopf heraus, mir wird dann schon eine einfallen, eine neue und schöne, zum Erzählen, ja, wenn du sie hören willst, gehe nur aus meinem Kopf heraus, damit ich einen klaren Gedanken fassen kann, dann erzähle ich sie dir.
Ja, so ist es gut. ich erzähle sie jetzt; weiß ich nicht, ob es einen wahre ist, frage mich bitte nicht, wo ist da der Unterschied?
Erzähle ich sie, ist sie real.
Also, ich erzähle dir die Geschichte von Gnor. Gnor, dem großen Raumfahrer.
Noch lange nicht alt, hatte Gnor schon viel erlebt auf seinen Reisen, war jedoch immer auf der Suche nach neuen Erlebnissen. Nach jedem neuen war er allerdings immer noch nicht befriedigt und suchte immer neue Abenteuer. Dir will ich nun die Geschichte seiner letzten Fahrt erzählen, soweit sie mir bekannt und wichtig erscheint. Willst du mehr wissen, so wende dich doch an den alten Agos, der über alles viel mehr als ich zu erzählen weiß und auch jenes Wichtige weiß, welches ich nicht einmal zu ahnen wage. Und wenn es dir nicht wirklich wichtig ist, wird er dir sowieso gerne viel erzählen.
Nach seinem vorletzten Abenteuer war Gnor also noch immer unbefriedigt durch seine Reisen und begab sich zu eben jenem Agos, seinem alten Lehrmeister und klagte ihm sein Leid, seiner Suche nach etwas neuem, unbekanntem, abenteuerlichem, unheimlichem, befriedigendem, eigentlich wisse er selbst nicht genau, was er denn eigentlich suche und trotz diverser Abenteuer nicht finde.
Der alte Agos war offenbar sogleich orientiert und fragte Gnor, ob er schon von einem Ort namens letzter Ort gehört habe, ganz weit draußen, am Ende des Universums, und Gnor bejahte, hin und wieder habe er davon gehört auf seinen Reisen, doch habe eigentlich niemand gewußt, wie man dorthin gelangen könne, doch sei dort, so seien die Berichte übereinstimmend gewesen, die Antwort auf die Frage aller Fragen, die Wahrheit eben zu finden. Eben, meinte daraufhin der alte Agos schmunzelnd, dort werde er finden, wonach er immer gesucht habe, die Wahrheit eben, vielleicht nicht die Antwort auf die Frage aller Fragen, aber immerhin die Wahrheit, was auch schon etwas sei, und wenn man sie richtig zu deuten wisse, vielleicht sogar implizit die Antwort auf die Frage aller Fragen. Wenn die schon nicht, so finde der damit vielleicht doch etwas Kurzweil, Befriedigung oder gar Glück. Wenn er dabei richtig aufmerksam sein, winke eventuell sogar als Belohnung ein kleines Stück Weisheit, das sei bei solchen Unternehmungen nie ganz auszuschließen, auch wenn er eigentlich gar nicht danach suche.
Das alles hörte sich schon ganz verlockend an, daher wollte Gnor gerne die Reise wagen. Doch wie er dort hingelangen solle, warf Gnor noch ratlos ein, und der alte Agos erhob sich etwas mühsam (des Alters wegen), aber sichtlich gutgelaunt und wies Gnor an, ihm zu folgen, wonach sie bald in einem großen Raum standen, voll und voll von Staub sowie alten Büchern. Agos zeigte mit faltiger Hand und vom Alter schon leicht gekrümmten Fingern auf das höchste Regal, ganz nach oben wies er und hieß Gnor hinaufsteigen und ein großes, flaches Buch herunterholen und zeigte ihm dort die Koordinaten des Weges und des Ziels, woraufhin Gnor auch bald abflog, diesen letzten Ort zu finden.
Angst hatte Gnor nicht, zuviel schon hatte er erlebt und nicht hoch schätzte er mehr den Wert seines Lebens ein, niedriger als den aller anderen intelligenten Wesen, und doch war da noch eine gewisse Spannung, was er dort am letzten Ort wohl finden werde, dort am Ende des Universums. Gefährlich schätzte er vielmehr jenen Bereich seiner Reise ein, der ihn in die nähe des großen Knotens bringen würde, einem Ort, vor dem jeder Reisende ausdrücklich gewarnt sei, der jemals beabsichtigt, das weite Universum zu erforschen, doch zum Ende des Universums gab es, wie das in solchen Geschichten ja immer eintritt, natürlich keinen anderen Weg. Den großen Knoten kann man sich wie einen räumlichen Möbiusstreifen vorstellen, in Form einer extrem entarteten Raumkrümmung also, die seine Opfer zwar wieder entkommen läßt, aber völlig umgekrempelt, invertiert oder verstört. Gnor hatte schon Wesen gesehen, die in den großen Knoten geraten waren und hatte sie ihre verqueren Absichten äußern hören und sie zutiefst bedauert. Die Harmlosesten von ihnen behaupteten zum Beispiel, sie wären dem schaganoglen Obergolsomb begegnet, der ihnen bewiesen habe, daß das Universum das Resultat eines Brechreizes seinerseits gewesen und er noch unentschieden sei, ob er das Erbrochene wieder essen solle oder doch besser seine Toilette hinunterspülen. Demzufolge leben jene armen Irren ständig mit der Angst, entweder samt Universum vom schaganoglen Obergolsomb verspeist oder von jenem in ein Meta-Schwarzes-Loch geworfen zu werden, einer Art Vielzweckentsorgungseinheit der Golsombs. Doch zurück zu Gnor.
Geschickt umging er den großen Knoten mittels einer besonders geschickten Transformation, die er einmal entwickelt hatte, um dem falschen Weisen Gurut zu entkommen, nachdem es ihm gelungen war, diesen Wahrsager, der von sich behauptete, er könne in die Zukunft sehen und wisse sie von jedem ganz genau, sobald er ihm nur in die Augen sehe, zu überraschen, indem er nach der offiziellen Audienz nicht nur ein heißes Liebesabenteuer mit dessen Lieblingsfrau hatte, sondern dadurch auch noch vielen seiner Jünger die Augen über ihren Meister öffnete, die nach seiner Flucht sogar erfolgreich eine Revolution durchführten und den ersten echten kommunistischen Staat schufen. Aber genug von solchen kleinen Scharmüzeln aus dem Leben von Gnor. Zurück zu seinem letzten großen Abenteuer.
Nach dem knoten wurde das Universum nun langsam immer leerer, vielleicht eine der ödesten Ecken des Universums sei das, urteilte Gnor, denn hier hatte die Expansion schon heftig zugeschlagen. Gnor machte schließlich auf dem Planeten der Mmglb den letzten Halt, da dieser zum letzten bekannten Sonnensystem in dieser Ecke des Universums gehört, dahinter sind keine Haufen, Galaxien und Sterne mehr bekannt, kein nennenswertes Stäubchen gab es dahinter mehr, und die Mmglb bezweifelten auch schon ihre eigene Existenz. Das ist ja mal so, wenn da in einer Richtung aufgrund der Expansion gar nichts mehr im Weltraum sichtbar ist, in der anderen Richtung bloß der große Knoten, welcher einen komplett verdreht, traut man sich hinein, so sind Zweifel durchaus angemessen – woran auch immer.
Dennoch nahm man ihn freundlich auf, glaubte aber feststellen zu können, daß es ihn gar nicht wirklich gäbe.
Deshalb meinte man auch, es sich sparen zu können, ihn zu warnen, weiter in die Leere zu fliegen, was sie ihm auch mitteilten. zum Dank gab Gnor noch jenen Beweis zum besten, warum das gesamte Universum praktisch als leer oder gar nicht existent anzusehen sei:
Teile man das gesamte Universum in infinitesimale Volumenelemente auf und durchlaufe man diese der Reihe nach, so erhalte man fast überall nichts, somit seien die nicht-leeren Volumenelemente eine Nullmenge.
Bei dem Lebesgue-Integral des gesamten Universums über die Volumenelemente könne man nun natürlich
letztere vergessen und erhalte zum Beispiel bei Integration über die Masse die Gesamtmasse null, also gäbe es auch keine Teilmassen – und schon sei bewiesen, daß das Universum leer, also de facto gar nichts vorhanden sei.
Die Mmglb fühlten sich warm verstanden und priesen ihn ob seiner Kenntnisse über die Mathematik sowie das Universum und den ganzen Rest.
Gnor war gerührt von derart viel Zuspruch und Anteilnahme an seiner Argumentation.
Tatsächlich besuchte Gnor noch ihre Bibliothek, um ihre Sternkarten durchzusehen, die natürlich alle leer waren, weil die Mmglb schon lange daran zweifelten, daß es überhaupt etwas gebe.
Stattdessen fand er ein ganz kleines Buch, welches ihm sicherlich gar nicht aufgefallen wäre, wenn es nicht das einzige der ganzen Bibliothek außer den leeren Sternkarten gewesen wäre.
Der Autor des Buches war der alte Agos, was Gnor nun sehr überraschte, damit hatte er wirklich nicht gerechnet.
Der Titel des Werkes lautete: Für den nach dem letzten Ort, dem Ende des
Universums, der Wahrheit Suchenden, welcher das Buch aber unbedingt erst
aufschlagen soll, wenn er an eben den Koordinaten jenes Ortes angekommen ist.
Ferner prangte da noch ein fetter Hinweis:
Präsenzexemplar: Das Buch ist nach Möglichkeit nach Gebrauch zurückzugeben.
Ja, genau du bist gemeint, Schlaumeier, welcher dies gerade liest!
Nicht einfach einstecken, stattdessen den Bibliothekar fragen!
Neugierig griff sich Gnor das Buch und fragte den Bibliothekar, ob er sich das Buch ausleihen dürfe, dieser sah ihn erstaunt an und meinte, daß sie noch viele dieser Bücher im Archiv hätten, die es ebensowenig wie dieses und ihn zu geben scheine, er deshalb das Buch selbstverständlich behalten dürfe, sozusagen als Dank für seinen wundervollen Beweis, den es natürlich auch nicht gäbe.
Gnor wies erstaunt auf den Hinweis zur Rückgabe.
Der Bibliothekar zuckte bloß die Schultern: Das sei bloß das Präsenzexemplar.
Er nahm es ihm einfach aus der Hand und zog aus einem Fach neben seinem Schreibtisch eines ohne den zusätzlichen Hinweis, überreichte dies mit freundlichem Lächeln.
Daraufhin bedankte sich Gnor für das Geschenk und flog alsbald weiter.
Schließlich, nach noch längerer Reise durch die Leere zu den bezeichneten Koordinaten, erreichte Gnor endlich das Ziel seiner Reise, einfach einen Punkt im leeren Raum, wie er feststellte, worauf er noch einmal seine Position überprüfte und kurz das Bild des schmunzelnden Agos vor seinen verstaubten Büchern in seinem Kopf auftauchte.
Einstweilen konnte Gnor das alles noch gar nicht deuten.
Seine Neugier trieb ihn allerdings gar mächtig an, was es mit all dem auf sich haben mochte.
Wozu diese Reise ins Nichts?
Daher schlug er also einer Zeit der Einkehr und Reflexion, einer munteren Runde leichter Meditation nach dem Mittag doch das kleine Buch auf und fand nur leere Seiten, abgesehen von der anscheinend letzten, darauf stand vermerkt:
Achtung, hier befindest du dich am letzten Ort, geradeso wie an jedem anderen Ort des Universums sein Ende und sein letzter Ort ist.
Hier ist es allenfalls gerade mal besonders leer, was an der galoppierenden Expansion liegt, was du sicher weißt, also halte dich nicht zu lange hier auf, sonst mußt auch du vergehen.
Was die Wahrheit anbelangt, so mag der geschätzte Leser zunächst das gesamte Buch sorgfältig studieren, dann aber erst den inneren hinteren Einbandes betrachten.
Gnor brummelte vor sich hin, kratzte sich ratlos am Kopf.
Das war schon alles sehr rätselhaft, leerer Raum, leere Seiten – was sollte er nun damit?
Mehrere Tage beschäftigte sich so Gnor mit den leeren Seiten, bis er meinte, es sei der Zeitpunkt gekommen, jenen bezeichneten Teil des Einbandes zu betrachten, weil er der Expansion wegen besser nicht länger in dieser Gegend verweilen sollte, denn er fühlte sich schon etwas zerstreut, mußte sich zusammenreißen.
Er blätterte also auch die letzte Seite um, was etwas Mühe bereitete, weil sie am Einband zu haften schien.
Das war andererseits ja eigentlich auch ganz plausibel, weil sie ja gar nicht versehentlich aufgeschlagen werden sollte.
Er knibbelte also ein wenig herum, bis sich die Seite löste.
Verblüfft schaute er in einen spiegel.
Nach langem Nachdenken erkannte nun Gnor die Wahrheit und die Tatsache, daß dies Abenteuer wohl das größte seines Lebens gewesen sei, durch nichts mehr zu überbieten. Jedoch erzählte er nie, was er denn eigentlich dort im Spiegel gesehen und was nicht gesehen hatte, was einen so großen Eindruck bei ihm hätte hinterlassen können.
Trotz der immer deutlicher spürbaren Expansion blieb Gnor noch einige Zeit dort und dachte nach, dann flog er wieder nach hause, das Buch mit unzerbrochenem Spiegel wohl verwahrend als einen Schatz. Zuhause blieb Gnor bis heute; und man hört von ihm, er, inzwischen wie der alte Agos ein großer Lehrer, erzähle jedem, den er besonders schätze und der es hören möchte, es ihm aber nicht wirklich wichtig sei, von seinem letzten Abenteuer als Geschichte, beginnend mit den Worten:
Immer soll ich dir neue und schöne Geschichten erzählen, unersättlich bist du, immer neue Geschichten verlangst du von mir.
Gehe nur zunächst aus meinem Kopf heraus, ja, gehe, dann, das verspreche ich dir, ja, ganz sicher, werde ich, du kannst mir vertrauen, erzählen, gehe nur zunächst aus meinem Kopf heraus, mir wird dann schon eine einfallen, eine neue und schöne, zum Erzählen, ja, wenn du sie hören willst, gehe nur aus meinem Kopf heraus, damit ich einen klaren Gedanken fassen kann, dann erzähle ich sie dir.
Ja, so ist es gut. ich erzähle sie jetzt; weiß ich nicht, ob es einen wahre ist, frage mich bitte nicht, wo ist da der Unterschied?
Erzähle ich sie, ist sie real.
Also, ich erzähle dir die Geschichte von Gnor. Gnor, dem großen Raumfahrer.
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