Geschrieben: 1995-09-30
- … Lost in a subway, I guess I'm losing time,
- There's a man looking at a magazine.
- You're such a fool, your mumbo-jumbo
- Never tells me anything – yea – ugh.
- … Looking for someone,
- And now I've found myself a name.
- Come away, leave me,
- All I have I will give.
- Leave me, leave me,
- All that I am I will give.
Genesis (Looking For Someone)
Langeweile, es ist einfach Langeweile, welche Rike in die Innenstadt getrieben hat, durch jede Menge Kaufhäuser sowie Läden, jetzt in die Straßenbahn. Ihre Clique wird erst morgen Abend, am Samstag wieder zusammenkommen, bis dahin muß ihre Zeit irgendwie vertrieben werden. Aber alleine durch die Stadt zu ziehen, ist nicht sonderlich interessant, heute Abend wäre ein Besuch im Kino eine plausible Möglichkeit, doch jetzt will Rike erst einmal nach Hause fahren, um sich umzuziehen. In Gesellschaft ihrer Freunde fühlt Rike sich immer wohl, irgendwem fällt immer etwas ein, damit die Laune auf hohem Niveau bleibt. Stattdessen hat Rike sich heute die ganze Zeit lediglich ziellos durch die Stadt treiben lassen, um nicht Daheim die ganze Zeit in eigener Stille sitzen zu müssen.
Die Fahrt der U-Bahn ist ebenfalls eine gute Ablenkung – es geht irgendwie voran, wenn auch klar ist, daß einerseits irgendwann ausgestiegen wird, andererseits die Bahn am Endpunkt wieder in die umgekehrte Richtung fahren wird – so erscheint ihr gelegentlich das Leben selbst, so auf eingefahrenen Gleisen hin und her, derart ist kein bislang unbekanntes Terrain zu erreichen. Alle sitzen im Zug, fahren mit, wobei dieser Zug selbst an sich kein Ziel hat, die Strecke ist vorgegeben. Fahrgäste können immerhin ein- und aussteigen, haben so den Eindruck der Wahl einer Richtung. Zusammen mit ihren Freunden ist derlei zielloses Umhertreiben egal, zusammen wird einfach gelebt, sich amüsiert, wobei solcherlei Aktivitäten nüchtern betrachtet ebenfalls lediglich eine leere Reise im Kreise ist, kein Ziel, bloß Ablenkung. Derlei Amusement läßt für Stunden vergessen, daß die Stadt grau und alle Gleise bereits gut eingefahren sind.
Bei der nächsten Station schaut Rike aus dem Fenster, eine andere Bahn hält auf dem benachbarten Gleis. Ein Mann darin starrt ihr plötzlich ins Gesicht. Es ist schon frech, meint Rike, sie so unverfroren anzustarren. Aber diese direkte Unverfrorenheit gefällt ihr ebenfalls, ein kurzer Flirt wäre eine ideale Unterbrechung ihrer Langeweile. Vergnügt denkt Rike, sie könne ihn ein bißchen quälen, wenn sie so tut, als hätte sie Interesse. Rike lächelt ihn einfach an. Ein wenig Schabernack, Kurzweil, hervorgerufene Gefühsduselei, geheimnisvoller Weckschrei für den Typen in jener anderen Bahn.
Was spannend ist: er reagiert tatsächlich, lächelt zurück. Einerseits amüsiert es Rike, wie schnell jener Mann auf das simple Lächeln reagiert, andererseits ist sie nun doch aufgeregt, weil endlich einmal an diesem Tag etwas passiert. Rike will natürlich ganz gelassen, beiläufig bleiben, deshalb ärgert es doch, daß das Antlitz unwillkürlich errötet, als er Rike anlächelt, der Flirt beginnt, dabei will sie doch nur mit ihm spielen, ihn etwas leiden lassen. Blitzschnell versucht Rike, mit ihrer Hand ihr Gesicht zu verbergen.
Als ihre Bahn anfährt, scheint das nur Sekunden dauernde Spiel schon vorbei zu sein.
Doch Rike kann es nicht fassen: jener Kerl springt auf, das sieht sie gerade noch, verläßt wohl seine Bahn gerade noch rechtzeitig.
Daß ihre Erscheinung einen so starken Eindruck auf ihn gemacht hat, findet Rike schon interessant.
Was wird er jetzt vorhaben?
Geht das Spielchen etwa noch weiter?
‚Wird er versuchen, mir mit der nächsten Bahn zu folgen? oder wie will er mich irgendwie einholen, mich erobern?‘, denkt Rike belustigt über diese Situation.
Immerhin – wenn, dann wären seine Entscheidungsfreudigkeit, seine Entschlußkraft Punkte für ihn.
Wenn ein Mann weiß, was er will, kann die Frau sich immerhin darauf einstellen, darauf basierend ihre Entscheidungen treffen.
Klare Kante ist von Vorteil für beide, sorgt zügig für einen Fortschritt der Affäre – so oder so.
Rike ist gespannt, es läuft ein wenig Kopfkino ab, was jener Typ vorhaben könnte, wie es praktisch umsetzen, sie einzuholen.
Sie sollte etwas nachhelfen, wenn er wirklich versucht, sie wiederzufinden.
Was könnte Rike besseres tun, als die nächste Station auszusteigen sowie hernach abzuwarten, was weiter passiert?
Deshalb steigt Rike also beim nächsten Halt aus, wartet auf die nächste Bahn.
Bevor diese kommt, hört Rike aber jemanden laut keuchend die Treppe zum Bahnsteig hinunterhasten.
Ist das etwa jener Typ aus der anderen Bahn?
Rike kann es nicht fassen, verbirgt sich hinter einer Säule, bevor dieser seltsame Typ ihre Anwesenheit entdeckt, denn forschend schaut er sich um.
Aber so leicht soll er es keinesfalls haben.
Rike beobachtet ihn.
Völlig atemlos setzt er sich schließlich. Ihre Überlegung ist, wie es in diesem Spiel weitergehen könnte, wie es auf gleichbleibend hohem Spannungsniveau gehalten werden kann; lächelnd fällt ihr etwas ein.
Erst muß ihr Verehrer jedoch noch etwas leiden, zunächst muß er die Hoffnung auf ein Wiedersehen nahezu aufgegeben haben, bevor es weitergeht.
Schon kommt die nächste Bahn, das Spiel kann folglich weitergehen. Schon will dieser eigentlich ganz schmucke Bursche ziemlich entmutigt in diese Bahn steigen, da tritt Rike hinter der Säule hervor, daß er sie sehen muß, wenn er aufschaut. Tatsächlich, kurz bevor er einsteigt, schaut er sich noch einmal um, sieht Rike.
Rike blickt ihn an, tut so, als sei sie überrascht, ihn zu sehen. Selbstverständlich – sollte dieser Verehrer jemals dazu kommen, darüber nachzudenken, wird diesem natürlich einleuchten, daß sie so auf dem Bahnsteig nichts zu suchen hätte, wenn Rike nicht irgendwie auf seine Reaktion eingegangen wäre. Allerdings wird sein Hirn derzeit mit anderen Gedanken geflutet sein, von daher also egal mit profaner Logik des Objektiven, wenn das Subjektive zwischenmenschlicher Reize erst einmal zugeschlagen hat.
Jetzt kann das Spiel also richtig beginnen. Ihr süßestes Lächeln lockt ihn, ihre Füße hingegen gehen dabei einen Schritt zurück, ihr stattlicher Galan folgt langsam. Rike spielt die Unentschlossene, gestikuliert mit ihren Händen im Kontrast dazu bewußt Unsicherheit, um ihn nur noch mehr zu reizen, geht weiter rückwärts, schaut ihn an, gleich darauf wieder zu Boden, inszeniert die von ihren Gefühlen Verwirrte, um ihn weiter anzulocken, läßt ihn etwas herankommen. Rike ist amüsiert, daß das aufregende Spiel so gut funktioniert.
Obwohl ihr hübscher Verehrer sich sichtlich noch nicht vom vorherigen Lauf ganz erholt hat, muß er sich schon noch ein bißchen anstrengen, denkt Rike, dreht um, läuft anschließend die Treppe vom Bahnsteig nach oben hoch. Auf dem ersten Treppenabsatz muß Rike ein bißchen warten, weil ihr hartnäckiger Verfolger nicht so schnell nachkommt. Nachdem sichergestellt ist, daß dieser ihr wirklich folgt, geht es weiter, die Treppe hinauf zur Straßenebene. Dies Schnuckelchen soll ein wenig leiden, denkt Rike, ist außerhalb seines Gesichtsfeldes. Sie läuft den Bürgersteig ein Stück weiter, schaut sich um, ob dieser Bursche auch wirklich noch folgt. Tatsächlich hastet dieser die Stufen hinauf. Jetzt treffen ihre Blicke abermals aufeinander. Es gefällt Rike, daß der adrette Kerl so geradeheraus hinter ihr her ist, sich damit auch irgendwie ausliefert. Diese Konstellation ist aufregend, interessant genug ist dieser Bursche gleichfalls für einen Flirt.
Jetzt ist es Zeit für echten Nervenkitzel, bevor dieses reizvolle Mannsbild zu nahekommt:
Rike läuft auf die Straße, den Lastkraftwagen hat sie genau abgepaßt, welcher nun mit quietschenden Bremsen auf sie zukommt. Nun scheint das Herz aus ihrem Brustkorb zu springen, so groß ist ihre Aufregung, denn Rike hat sich doch etwas verschätzt, es ist knapper als gedacht, sie ist beinahe vorbei, da streift die Stoßstange doch noch das Bein, Schmerz durchzuckt ihren Körper, doch es ist nicht so schlimm, ein blauer Fleck, Rike humpelt weiter zur anderen Seite der Straße. Das geht gut, Rike schaut erst dort wieder nach ihrem zuckersüßen Verehrer. Der Lastwagenfahrer hat sich bereits einigermaßen von seinem Schreck erholt, gestikuliert wild. Rike sieht sodann, wie ihr folgsamer Verehrer mit einem unbeschreiblichen Gesichtsausdruck irgendwo zwischen äußerster Spannung und Verzweiflung auf dem Bürgersteig hinter dem Lastwagen auftaucht. Sein Gesichtsausdruck sieht so fürchterlich aus, daß Rike sich plötzlich vor ihm schämt, sie war zu weit gegangen in diesem Spiel. Doch als er sie sieht, schlägt sein Gesichtsausdruck augenblicklich in Erleichterung um. Der Lastwagenfahrer flucht aus der inzwischen geöffneten Tür.
Obwohl Rike die Sache mit dem Lastwagen jetzt für so stark übertrieben hält, daß das Spiel eigentlich keineswegs weitergehen sollte, muß sie nun weiterlaufen, wenn sie keinen Ärger riskieren will. Er tut ihr jetzt leid, doch sie muß weiterlaufen, besser humpeln, denn ihr Bein tut immer noch weh, das ist die Strafe, denkt Rike. Also weiter, eine lange Querstraße entlang. An der nächsten Ecke schaut sie wieder nach ihrem geneigten Verfolger, jetzt rast ihr Herz vor Aufregung. Was Rike sieht, ist, was sie nicht zu hoffen wagte, wie gehabt dieser adrette Verehrer, nur dieser läuft ihr noch immer nach.
Vergnügt lacht Rike laut auf sowie ihm zu, doch der fürchterliche Schrecken, den sie ihm eingejagt hat, als sie vor den Lastwagen lief, tut ihr leid, auch dieser Fehler treibt sie weiter, ebenso allerdings gleichfalls die Lust an dieser Situation, Abwechslung, Aufregung im Leben – herrlich verrückt das alles. Das Spiel hat sich verändert, verselbständigt, Rike bestimmt nicht mehr souverän die Regeln, das tun längst ihre Gefühle – prickelnd, nun im selbst ausgelösten Sturm vorangetrieben zu werden. Ihre Überlegenheit ist dahin, seine Qual ist ebenso die ihre und doch ist es eine gar zu süße Qual, als daß Rike schon aufhören wollte, davon zu kosten, ein bißchen muß es noch weitergehen.
Rike läuft um eine Hausecke herum, über eine diesmal leere Straße in eine Art Parkanlage. Das hat ihr Galan wohl noch gesehen, doch dort versteckt sich Rike in einem Gebüsch. Sie ist so aufgeregt, daß der Schmerz in ihrem Bein fast vergessen ist, zumal diese Unannehmlichkeit schon deutlich nachgelassen hat.
Am Eingang des Parks streift sein Blick vergeblich suchend umher, ‚armer Kerl‘, denkt Rike. Noch atemloser als sie ist dieser, schüttelt traurig den Kopf, wohl weil er sie nicht sieht, geht zögernd den Weg in den Park hinein, sucht nach ihr. Das aufregende Spiel ist für Rike längst mehr geworden, sie mag seine Hartnäckigkeit, wie er auf sie reagiert hat, das prickelnde Abenteuer ihrer Begegnung. Wie dieser Interessent jetzt leiden muß, wo er schon wieder Grund hat zu fürchten, Rike nie wiederzusehen, sie verloren zu haben. Er dreht ein ganzes Stück weiter resigniert sowie traurig um, kehrt zurück, bleibt am Parkeingang stehen.
Sein Leiden wird für Rike langsam unerträglich. Dieser Bursche erscheint schon sehr verlockend, ein bezauberndes Knuffelchen – ooouuuu wie ist der süß – ohne diese ganze Geschichte mit der Bahn sowie Verfolgung drumherum wäre Rike dieser Sachverhalt glatt entgangen. Schwer atmend spricht dies Zuckerchen nun leise, er sei ein Idiot, brummelt Vorwürfe, sie vor den Lastkraftwagen getrieben zu haben. Ihn so verzweifelt zu sehen, erträgt Rike nicht länger. Dieser kühne, nun jedoch arg zweifelnde Recke ist wohl so damit beschäftigt, Selbstvorwürfe zu formulieren, daß er gar nicht bemerkt, wie Rike von hinten heranschleicht. Obwohl Rike unsicher ist, ob sie das Richtige tut, ist sie entschlossen zu handeln.
Rike greift nach seiner Hand, der ganze stattliche Kerl zuckt sichtlich vor Schreck zusammen, ist zu keiner Bewegung fähig.
Ohne seine Hand loszulassen, geht Rike halb um ihn herum, steht nun vor ihm, mustert ihn mit hochgezogenen Augenbrauen, betont skeptischen Blick, ob er wirklich einer näheren Beschäftigung wert wäre.
Völlig überrascht starrt der Überrumpelte Rike an.
Rike strahlt ihn nun allerdings schon nach kurzer, zufriedenstellender Begutachtung ganz offen und ohne Hintergedanken an, hält seine Hand fester, zieht ihn heran, umarmt ihn erst ganz unsicher, einen Augenblick später jedoch entschlossen und wortlos.
Oh! dies ist so irre, verwirrend, wild, abenteuerlich absurd, schon deshalb so gut, weil ganz anders als der sonstige Alltag.
So köstlich ist dieses Ende des Spiels, daß Rike ganz schwindelig wird. Sie preßt ihre Lippen auf die des noch immer völlig Überraschten. Dieser riskant, frech erhaschte Kuß des Fremden brennt heiß, süß und wohlig. Ganz sanft fährt daraufhin Rikes Zungenspitze erst über die Ränder seiner Lippen, drängt ihre Zungenspitze anschließend entschlossen in seinen Mund hinein. Langsam löst sich seine Erstarrung, wohl intuitiv erfolgt seine Umarmung ihrerseits, erst ungeschickt, sodann, als wolle er sie nie wieder loslassen. Beider Atem mischt sich in ihren Mündern, ihre Zungen treffen aufeinander, zucken zurück und finden sich wieder in forschendem Züngeln, zunehmend neugierigerem Gerangel. Das fühlt sich so herrlich abstrus an, den Fremden zu küssen, es wühlt auf, macht lebendig, füttert Sehnsucht nach mehr davon, viel mehr davon. Allerdings liegt darin ebenso ein Paradox, denn mit mehr würde Vertrautheit den Rausch des Fremden, Gewagten ersetzen – letztlich vielleicht ebenfalls keineswegs schlecht, wohlige, geborgene Vertrautheit genießen zu können, zu allem schwingt eine zarte Hoffnung, schwankt das Gefühl zwischen leicht unruhiger Angst, überschäumendem Mut sowie dem Verlangen nach einer weiterhin lustvollen Fortsetzung.
Rike denkt nicht mehr, sie spielt nicht mehr, augenblicklich will sie nichts mehr, außer seinem atemlosen Kuß, sie will ihn ganz und gar, alles andere ist egal …